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Zwei Meilen staubiger Weg führten bis hinunter in die Stadt. Amy lief, als sei der Teufel hinter ihr her – die atemberaubende Natur zwischen Meer, Klippen und saftig grünen Hügeln verblasste, der strahlend blaue Himmel verlor jede Bedeutung. Vor ihren Augen blitzten nur die schrecklichen Bilder von Sheila und der unbedingte Wille, ihre Rettung dem Schicksal zu überlassen.
Das Schicksal würde entscheiden, ob Amy schneller sein durfte als der Sensenmann, der sicher schon vor Sheilas zerfleischtem Körper auf sie wartete.
Amy erreichte O'Sullivans Pub durchgeschwitzt und panisch.
Patrick O'Sullivan war ein kleinwüchsiger, dicklicher und herzensguter Mann mit roten Haaren und einem Vollbart. Seine Familie war in den fünfziger Jahren aus Irland nach Kanada ausgewandert, er zog in den späten 80ern mit seiner Frau Noreen nach Maples Point. Er eröffnete den ersten und einzigen Pub auf Maples Point, der sich schnell zu einem Treffpunkt für die Einheimischen mauserte. Das lag sicher nicht nur am guten irischen Bier und der unterhaltsamen Art von Patrick O'Sullivan, sondern auch daran, dass er das einzige Telefon in der Stadt besaß.
Genau genommen gab es noch ein zweites Telefon auf dieser Seite der Insel – das stand im Büro von Sheriff Brawling. Die Insulaner hegten eine natürliche Abneigung gegen "den Arm des Gesetzes". Auf Maples Point regelten die Menschen ihre Angelegenheiten selbst, die Anwesenheit des Sheriffs nahmen sie hin, schätzten ihn jedoch nicht.
Dunkles Holz verkleidete die Wände im Pub. Grüne Sitzbänke, tiefdunkle Möbel und merkwürdige Lampen schufen eine gemütliche Atmosphäre. Es roch nach abgestandenem Bier, Holz und Zigaretten. Das Herz des Pubs war die große, halbrunde Bar, hinter der Patrick O'Sullivan gerade Biergläser abtrocknete und deren Bartresen Patrick selbst aus einem der Länge nach durchgesägten Baumstamm gefertigt hatte.
»Was ist denn passiert, junge Lady?«, fragte Patrick. Amy stand mit dem blutigen T-Shirt schwer atmend vor ihm und suchte nach Worten. Mit seinem charmanten, irischen Akzent und einem gewinnenden Lächeln erschien er ihr gleich sympathisch. Sie roch Kautabak mit Lakritzaroma in seinem Atem.
Amy versuchte, die Situation zu schildern, ohne dabei von den Tränen erstickt zu werden, die ihr im Hals steckten seit – ja, eigentlich schon seit gestern Nacht. Das war alles zu viel für sie, sie wollte doch Ruhe finden und nicht einen Alptraum nach dem anderen durchmachen. Erst Chicago und jetzt das. Es war mittags, der Pub war leer bis auf zwei ältere Hafenarbeiter, die Amy genau musterten.
Sie erzählte dem freundlichen Wirt, wie sie Sheila gefunden hatte und dass sie wahrscheinlich noch lebte und Hilfe brauchte.
Am Ende ihrer Erzählung strich Patrick über ihre Hand. Seine hellbraunen Augen strahlten etwas Beruhigendes aus, auch wenn sie ihn durch den Tränenteppich kaum noch sah.
»Ich kümmere mich darum, junge Lady. Sie bleiben einfach hier sitzen. Ich rufe den Sheriff an und mache Ihnen danach etwas zu trinken.« Die Stimme klang gewollt ruhig, Amy spürte das. Er wollte sie nicht zusätzlich aus der Fassung bringen, hatte aber selbst Mühe, nicht in Panik zu geraten.
Patrick verschwand im Hinterzimmer und kehrte wenige Minuten später mit bedrücktem Gesicht zurück. Er hatte seine Stirn in Falten gelegt, so dass seine roten, buschigen Augenbrauen zu einer Linie wuchsen.
»Sheriff Brawling holt Sie hier ab, junge Lady. Er fährt mit Ihnen dann hoch in die Anlage. Ed und Brodie, die Sanitäter der Ortsfeuerwehr, sind unterwegs. Darf ich Ihnen ein Getränk anbieten?«
Patrick verriet ihr nicht, dass der Sheriff ein Arsch und Ed und Brody freundliche, aber langsame und dumme Gesellen waren. Wenn das Leben einer Frau von den Dreien abhing, war sie bereits verloren.
Amy bat um Wasser, auch wenn ein ordentlicher Schnaps ihr lieber gewesen wäre. O'Sullivan stellte ihr ein Glas Wasser auf den Tresen und setzte sich zu ihr an die Bar. Sie schwieg, starrte an die Wand und versuchte, ihr aufgewühltes Innerstes zu beruhigen. Sie hoffe immer noch, aus einem Alptraum zu erwachen. In ihrem Kopf baute sie sich ihre eigene Geschichte. Sie war hier im Pub gewesen, hatte zu viel getrunken und dann einfach nur schlecht geträumt. Doch so war es nicht.
Sie wusste das.
Ihr vollkommen mit Blut vollgesaugtes T-Shirt ließ die Realität nicht verblassen.
Wird Sheila es schaffen? Ist sie bereits tot?
»Glauben Sie an das Schicksal?«, fragte
Amy den Wirt, der mit seinen ruhigen Augen die ganze Zeit einfach nur neben ihr gesessen hatte. Aufmerksam sah er die junge Frau an, deren blaue Augen sorgenvoll verhangen wirkten.
»Ja, ich glaube an das Schicksal.«
Er lächelte mild, holte seine Brieftasche heraus und zeigte ihr das Foto von seinen zwei Kindern Owen und Brianna.
»Vor zwanzig Jahren kam ich mit meiner Noreen her. Wir versuchten jahrelang, Kinder zu bekommen. Gott schenkte uns einfach keinen Nachwuchs. Mein Bruder John sagte damals zu mir, meine Frau und ich hätten das Schicksal noch nicht überzeugt, dass wir gute Eltern für unsere Kinder sein werden. Er riet mir, dass ich mit Noreen einfach ein neues Leben anfangen soll, mir meinen Traum vom Pub erfüllen, und dann würde es schon werden mit dem Nachwuchs. Wir kamen hierher. Der Pub lenkte uns ab, und es dauerte gar nicht lange, da trug meine Frau in ihrem runden Bäuchlein meine Brianna aus. Jetzt ist sie neunzehn Jahre alt und heiratet nächste Woche einen netten Mann vom Festland aus Penticton. Ja, junge Lady, ich glaube an das Schicksal.«
Das Knarzen der schweren Eingangstür des Pubs riss sie aus den Gedanken. Durch die Tür stolzierte Sheriff Brawling. Wäre Amy nicht auf einer kanadischen Insel gewesen, hätte sie geglaubt, er wäre ein Texas Ranger. Die breite, hochgewachsene Gestalt strotzte nur vor Kraft – breitbeinig mit behäbigem Gang und einem deutlichen Bauchansatz kam der kahle Sheriff in den Pub. Die Schritte vibrierten laut über die Holzdielen. Noch bevor er dicht vor ihr stand, roch sie seine Alkoholfahne, die kaum von seinem starken Geruch nach Zigaretten übertüncht wurde.
»Sheriff Brawling«, stellte er sich mit lauter, knurriger Stimme vor und schob Amy die Hand entgegen. Sie ergriff zögerlich die Finger des widerlichen Gesetzesvertreters. »Amy Hunter aus Chicago.«
Der Sheriff knurrte sie mit halb zugekniffenen Augen an.
»Sie haben einen Mord zu melden, habe ich gehört? Ausgerechnet heute, an meinem freien Tag?«
»Nein. Ja. Ich weiß nicht«, stammelte Amy und setzte fort: »Ich habe Sheila Monahan schlimm zugerichtet in ihrer Ferienhütte oben im Buff Holiday Estates gefunden. Vielleicht lebt sie noch. Ich bin nicht sicher.«
Der Sheriff senkte die Brauen und kniff die Augen fast zu. Amy bezweifelte, dass er sie überhaupt noch sehen konnte.
»Was denn nun: Ist sie tot oder nicht? Wer soll das überhaupt sein, diese Sheila? Nie gehört, den Namen.«
Der Sheriff herrschte sie an. Amy zuckte mit den Schultern und sagte leise, fast flüsternd: »Sheila ist eine Touristin, oben in der Ferienanlage der Huberts. Ich weiß nicht, ob sie tot ist. Sie ist schlimm zugerichtet.«
Brawlings Augen wirkten wie Eiswürfel, die jemand in seine Höhlen gepresst hat. Sie zeigten kaum eine Gefühlsregung, als er von Amy verlangte, mit ihm hochzufahren zur Anlage, um nachzusehen, was Sache sei. Ängstlich sah sie Patrick O'Sullivan an, der ihr Zögern erkannte und wusste, es würde den alkoholsüchtigen Sheriff wütend machen, wenn sie sich weigerte.
»Die junge Lady ist mein persönlicher Gast, Sheriff Brawling, erlauben Sie, dass ich sie begleite.« Der Sheriff schenkte Patrick einen prüfenden Blick und nickte schließlich. Amy war heilfroh, mit dem rüpelhaften angetrunkenen Brawling nicht allein die Steilküste hochfahren zu müssen.
Brownie stieg unwillig in den Geländewagen des Sheriffs. Er saß mit O'Sullivan und Amy im Fond und zitterte. Das war nicht normal, Brownie liebte Autofahren.
»Wo finde ich hier einen Tierarzt? Wenn nachher alle Formalitäten erledigt sind, möchte ich gerne Brownie untersuchen lassen. Er war die ganze letzte Nacht weg und ist jetzt ungewöhnlich still, ich will ihn sicherheitshalber untersuchen lassen.«
Amy schaute O'Sullivan an, an den sie die Frage gerichtet hatte. Die Antwort schallte stattdessen vom Fahrer, der verärgert in den Rückspiegel stierte.
»Wildert Ihr Köter etwa? Das sollten Sie ihm schnell abgewöhnen, Lady, wir erschießen hier Tiere, die beim Wildern erwischt werden.«
Sheriff hin oder her, dieser besoffene Kerl machte sie wütend. Was dachte der sich überhaupt, statt zu fragen, was passiert sei, unterstellte er einfach Unsinn.
»In der Nacht ist irgendein Tier in meine Hütte eingedrungen. Ich vermute, er hat es verjagt und sich vielleicht dabei verletzt.«
Amy flunkerte, sie hatte ja in Wahrheit keinen blassen Schimmer, was Brownie in der Nacht da draußen getrieben hatte. Der Sheriff brummte erbost, während er viel zu schnell den engen, unbefestigten Feldweg zur Ferienanlage hochraste.
»Was war es denn für ein Tier?«, fragte Patrick in sanftem Ton. Amy bemerkte den besorgten Unterton in seiner Stimme.
»Ich weiß es nicht. Ich denke, es war ein Waschbär. Es war dunkel, und ich konnte ihn nicht sehen.« Wieder zogen sich die Brauen des Wirts zu einem roten Balken unterhalb seiner in Falten gelegten Stirn zusammen, ein Schatten wanderte über sein Gesicht.
Eine Weile kehrte Ruhe ein.
»Wenn der Sheriff keine weiteren Fragen mehr an Sie hat, kommen Sie doch heute in meinen Pub. Es ist Freitag, da kommt Callahan Jones in die Stadt. Er wohnt ziemlich abgelegen in einer Blockhütte an der Steilküste von Devons Creek – er ist Tierarzt und ein guter Freund von mir. Er schaut sich Ihren Hund sicher gerne an.«
O'Sullivan streichelte beruhigend über Amys Arm, deren Nervosität sichtlich zunahm, als die Ferienanlage am Horizont auftauchte.
»Callahan Jones? Sie sollten Ihren Köter und sich selbst fernhalten von dem. Der ist ein Einsiedler, der nur selten herunterkommt in die Stadt. Ich sage Ihnen, Lady, mit dem stimmt etwas nicht. Das mit dem Waschbären sollten Sie ihm nicht erzählen, er würde Ihren Flohzirkus womöglich direkt einschläfern.«
Brawling hatte scheinbar von nichts und niemandem eine gute Meinung, solange weniger als 30 % Alkohol auf dem Etikett standen.
»Callahan schätzt die Einsamkeit, das ist wahr. Für mich und meine Familie ist er schon lange ein guter Freund, und sorgen Sie sich nicht, er wird Ihrem Hund ganz sicher nichts tun. Sein Hund Whiskey, eine ziemlich groß gewachsene Rottweilerdame mit schwarzem Fell und einigen whiskeyfarbenen Flecken über den Augen, an der Schnauze und an den Pfoten, hat er einem Jagdpächter abgekauft, als der sie erschießen wollte wegen Wilderei. Erzählen Sie ihm unbedingt genau, was passiert ist.«
Der kauzige Wirt zwinkerte ihr zu und drückte ihre Hand.
Brawling brummte erneut irgendetwas vor sich hin und hielt einige Meter vor dem Schild der Ferienanlage.
»Die Kreuzfahrt ist zu Ende. Dann wollen wir Mal schauen, was es da drin zu sehen gibt, Lady. Ihre Töle bleibt im Wagen, nicht dass der mir den Tatort versaut. Keiner von Ihnen fasst mir etwas an, sonst kriege ich Ärger mit Knightley. Das fehlte mir gerade noch. Ich hatte heute eigentlich vor, mit meinem Bruder angeln zu gehen. Fällt wohl ins Wasser, dank Ihnen, Miss Hunter.«
Amy fürchtete sich, sie wollte nicht noch mal sehen, was mit Sheila passiert war. Sie schaute sich um, weit und breit war kein anderer Wagen zu sehen, weder der Buick der Andersons, noch ein Krankenwagen. Der Sheriff gab ihr die Schuld, dass er seinen freien Tag mit einem Mord verbringen musste.
Sie passierten das Haus der Andersons, wo Mr. Anderson in seinem Schaukelstuhl auf der Veranda saß und freundlich grüßte, als sei er nie weg gewesen. Aus der Entfernung entdeckte sie, dass die Tür von Sheilas Hütte noch offen stand.
Ob sie noch lebte?


In Animae Veritas - Insel der verlorenen Seelenजहाँ कहानियाँ रहती हैं। अभी खोजें