Eins

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Wenn es etwas gab, was Linea mehr hasste, als Mathearbeiten zu schreiben, dann war es wohl diese Mathearbeiten wieder rauszubekommen. Sie seufzte und legte den Kopf auf die Tischplatte, während Mr. Harsen den Notenspiegel an die Tafel schrieb. Das Schuljahr ging nun schon einige Monate, das erste Halbjahr stand kurz bevor und Linea konnte nicht in Worte fassen, wie Elend es ihr mit diesem Wissen ging. Natürlich war ihre Versetzung gefährdet, so wie fast jedes Jahr. Sie seufzte. Sie wusste, die Arbeit, die sie und zurück bekommen würde, würde nichts daran ändern. Im Gegenteil. Sie hatte wirklich große Angst. Nicht nur vor dem Zeugnis und der Arbeit, sondern auch vor der Reaktion ihrer Eltern. Sie fürchtete sich davor, dass sie das Desaster ihrer Mathematiknoten dafür nutzen würden, um ihr das Cheerleading auch noch zu verbieten. Sie wusste nicht, wie sie das überstehen sollte. Die letzten Monate waren schon hart gewesen. Sie übte zwar immer noch in ihrem Zimmer, aber es war eben anders, als die Ballettstunden sonst. Ihre Schulleistungen waren sehr passable, zumindest alle außer Mathe. Jetzt wo es bald auf das Halbjahreszeugnis zuging, war es mehr denn je ein Thema bei ihr zuhause. Es verging keinen Tag, an dem ihre Eltern ihr keine Vorwürfe oder Druck machten. Linea fühlte sich allein und unter Druck gesetzt. Ihr Puls schien in die Höhe zu schießen, als Mr. Harsen, der im übrigen keinen Finger rührte um ihr all diesen Druck nehmen zu wollen, die Arbeiten mit seinen großen Händen umfasste und begann sie auszuteilen. Es war wirklich so gekommen, wie sie gedacht hatte. Mr. Harsen war nicht sehr offensichtlich in dem, was er tat, aber dennoch sehr deutlich. Er hatte das Talent sehr subtil aber durchdringend zu sein und ihr immer wieder klar zu machen, dass sie nicht gut genug war. Dass er keine Schüler mochte, die nicht gut genug waren. Dass solche Schüler in seinen Augen wenige wert waren. Das eine Mal, dass sie bis jetzt an der Tafel stehen musste, hatte fast in Tränen geendet. Er hatte aber kein Mitleid gehabt. Sie war sich sicher, dass er das Glitzern in ihren Augen sehen konnte, als sie einen gemeinsamen Blick geteilt hatten. Sie hatte gehofft, etwas in seinen grauen Augen zu finden. Mitleid vielleicht. Oder einfach nur, dass er realisierte, dass sie zu zart besaitet war um seinen Worten standzuhalten. Doch war nichts. Da war nichts gewesen, dass ihr überhaupt irgendetwas gezeigt hatte. Zumindest nichts, was sie sehen wollte. Alles was sie an diesem Tag bekommen hatte, war ein herablassender Kommentar und eine schlechte Note. „Alice, solide wie immer." Das Mädchen neben ihr lächelte, als sie die zwei entgegen nahm, studierte ihre Arbeit voller Zufriedenheit für ein paar Sekunden und schenkte Mr. Harsen dann ein fast schon übertriebenes Lächeln. Er ignorierte es aber. Linea seufzte. Alice hatte noch nie Probleme mit Mathe gehabt, Alice war in allem gut. Alice war in allem besser. „Linea." Er machte eine Pause, sie war nicht mal ein Seufzten wert. Langsam sah sie auf, sah nur kurz in seine Augen. Sie wusste, dass dort nichts war außer dieser amüsierte herablassende Ausdruck, der immer da war. Und das genau machte ihr Angst. Sein Blick war einfach nicht ertragbar. „Ich denke ich muss dir nichts mehr sagen." Linea streckte ihre Hand nicht aus, um die Arbeit entgegenzunehmen. Sie hatte Angst, dass er ihr Zittern sehen konnte. Es war nicht so sehr die Arbeit. Es war eher Mr. Harsen. Deshalb lagen ihre Hände so ruhig sie konnte auf dem Tisch und er legte die Arbeit auf genau diesen. Während er das so tat und seine Hände ihren für einen kurzen Moment so nahe waren, konnte sie deutlich den Vergleich zu ihren Händen sehen. Ihre Hände waren so winzig im Vergleich zu seinen. Sie schluckte und nickte nur, um ihm zu zeigen, dass sie die Note registrierte. Sie war eine Versagerin. „Kommen deine Eltern heute zum Elternabend?", fragte er nun und Linea sah, fast schon überrascht, auf. Kümmerte ihn das tatsächlich? Sie nickte. „Ja." Sie wollte nicht daran denken, was ihre Eltern sagen würden, wenn sie heute von dem Elternabend nach hause kamen. „Das will ich für dich auch hoffen." Linea zuckte zusammen und blickte, wie von selbst, in seine Augen. Sie hatte das Gefühl zu erfrieren, seine Worte waren auf einmal so kalt. Er war eigentlich immer irgendwie herablassend oder neutral, die meisten Dinge schienen ihn nicht wirklich zu interessieren. Das Mädchen konnte sich nicht daran erinnern, ihn einmal so sprechen gehört zu haben. So eiskalt. Es machte ihm keine Mühe ihren Blick standzuhalten, Mr. Harsen sah sie eindringlich and und es erinnerte sie an den Blick, den er ihr schon einmal gezeigt hatte. So schnell sie konnte senkte sie ihren Kopf und entging damit dem herablassenden Lächeln, dass er ihr daraufhin schenkte.

AllmächtigWo Geschichten leben. Entdecke jetzt