1. ~ el mar

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-Seit drei Wochen bin ich nun schon auf offener See, mittlerweile muss ich nicht mehr an mich halten, um nicht meinen gesamten Mageninhalt in den schäumenden Abgrund über die Reling zu entleeren. 

Hier zu sein, frei zu sein, ist ein unglaubliches Gefühl, von dem ich nicht genug bekommen kann. An den sonnigen Tagen stehe ich stundenlang an Deck, lehne mich an die Reling und blicke in das glitzernde Wasser, dass die Sonnenstrahlen reflektiert und das Boot in ein solch zauberhaftes Licht taucht. Die Wellen, die ans Schiff lecken und sich wieder in die unendlichen Weiten des Ozeans zurückwerfen, sind eine reine Inspiration. Ich könnte diesem Schauspiel den ganzen Tag zusehen. 

Aber leider bleibt mir dafür nicht die Zeit. Ich reise auf dem Schiff eines Kaufmannes, was mir sehr gelegen kommt, immerhin bin ich in letzter Zeit etwas knapp bei Kasse. Hier helfe ich bei den täglich anfallenden Aufgaben, um mir meinen Aufenthalt zu finanzieren. Man glaubt gar nicht, was man für interessante Menschen kennenlernt, wenn man zusammen über den Kartoffeln sitzt und schält, bis einem die Finger weh tun. Auf diesem Weg komme ich, so hoffe ich, in etwas mehr als zwei Wochen in Amerika an, wo ich plane, mir ein neues Leben aufzubauen. Ich möchte meine Vergangenheit endlich gänzlich hinter mir lassen. 

Die amerikanische Sprache und Kultur fasziniert mich ungemein. Dieses Land entstand ja nun aus den Kulturen von verschiedensten Einwanderern, die aus aller Welt kamen. Heute herrscht dort der Gedanke des "amerikanischen Traums". Das ist auch das, was mich magisch anzieht, was ich unbedingt erleben möchte. Etwas anderes, als das mir bekannte, etwas anderes, was man mir nicht schon seit Kindesbeinen an eingetrichtert und erzählt hat. Ich möchte etwas eigenes entdecken, etwas eigenes leben. Ich möchte frei sein. Und dieses Schiff ist der letzte Schritt zu meinem großen Ziel, meinem Lebensziel. 

Ich musste dafür meine Familie zurücklassen, meine treue Mutter, meine kleinen Geschwister und meinen großen Bruder, der bereits selbst unsere Landwirtschaft führte. Wir hatten uns etabliert, waren in die oberen Kreise aufgenommen worden, wir hatten die Saison mitgemacht und uns  auf Bällen und Festen mit netten jungen Herren bekannt gemacht. Meinen kleineren Schwestern gefiel dieses Leben, die Aufmerksamkeit, die Komplimente, die Rendez-Vous. Aber mir gab das nichts. Ich verbrachte meine Abende lieber hinter Büchern über Abenteurer, die aufgebrochen und etwas neues erlebt hatten. 

So will ich auch sein. Etwas neues entdecken und es ausleben. Das Leben auskosten. Als freie, ungebundene Frau. Mit diesen reichen Schnöseln kann ich nichts anfangen. 

Als junges Kind durfte ich das sein, wild und frei. Ich trug Hosen, kletterte auf Bäume und spielte mit den anderen gleichaltrigen Jungen der Grafschaft Verstecken im Wald. Das war die schönste Zeit meines Lebens. Und jetzt möchte ich das wieder erleben. 

Ich blicke von meiner Handarbeit auf und sehe aus dem Fenster. Erblicke die letzten Sonnenstrahlen, die sich in der glatten Wasseroberfläche brechen und mir entkommt ein Seufzen. Wie schön. Ich lege meine Stickerei beiseite und trete an Deck, lehne mich an den Hauptmast und starre auf den riesigen, undenkbar weiten Ozean hinaus, der sich wie ein blauer Teppich vor mir erstreckt und ausdehnt. 

Auf einmal kommt Unruhe auf. Die Männer des Schiffs laufen kreuz und quer über Deck, schreien sich etwas zu. Ich verstehe nicht, was sie sagen, aber es klingt alarmierend, beunruhigend. Jemand kommt mit einem weißen Stoff angerannt und klettert den Hauptmast hoch. Verwirrt starre ich zu ihm hoch und beobachte, wie er den Stoff an den Mast bindet. Es geht nur ein leichter Wind, doch der Stoff, der anscheinend jetzt eine Fahne darstellt, bewegt sich leicht und flattert ein wenig. Ich verstehe nicht ganz, was der Sinn dieser weißen Fahne sein soll, aber jetzt rennt eine der Frauen, die ich aus der Küche kenne, auf mich zu und nimmt am Arm. Ihr Griff ist fest, und sie zieht mich mit sich, unter Deck, in meinen Kajüte. Mein Magen beginnt zu schmerzen. Was passiert hier? "Sie kommen, sie kommen! Wir müssen ruhig sein, uns verstecken!" "Wer kommt?", frage ich, verängstigt. "Die Piraten, sie kommen. Habt Ihr sie nicht gesehen?! Ihr Schiff ist riesig und unheilvoll!" Ich schüttle nur den Kopf. "Hoffentlich sehen sie die weiße Flagge und kentern uns nicht", murmelt Madeleine vor sich hin, während ich sie nur anstarre. "Wir sind doch noch viel zu jung, um zu sterben!" Mit vor Entsetzen geweiteten Augen dreht sie sich zu mir herum und fasst mich an den Armen. "Nicht wahr?!" Wie in Trance nicke ich, stimme ihr zu. Sie sollte sich beruhigen. 

"Vielleicht wollen sie uns ja nicht einmal etwas tun", versuche ich, Madeleine und mich zu beruhigen. 

Im nächsten Moment erbebt das Schiff unter einem mächtigen Schlag. 



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