Z W E I

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Als ich die Augen öffne, ist da zuerst Licht. Es ist so hell, dass ich die Lider augenblicklich wieder zuschlage.
Ich fühle mich benommen und ein wenig schwindelig.
Was ist passiert?
Ich lasse die letzten Ereignisse Revue passieren.
Lydia und ich waren auf dieser Buchmesse. Wir haben mit Liane Nickelson geredet. Irgendwie ist mir schlecht geworden. Wir haben uns hingesetzt. Dann ist da nichts mehr.

"Olivia?", die Stimme meiner besten Freundin dringt an mein Ohr.

Ich versuche die Augen zu öffnen und erwarte, mich in einem Sanitätsraum wiederzufinden. Aber dort bin ich nicht und ich liege auch nicht auf einer Liege. Über mir ist der wolkenlose Himmel und ich liege im Gras. Es ist warm, mindestens 25 Grad. Wieso ist es so warm? Wir haben doch November.

"Was machen wir hier?", frage ich und setze mich langsam auf. Ich war noch nie ohnmächtig.

"Das wollte ich dich grade fragen."

"Woher soll ich das wissen? Ich war nicht bei Bewusstsein!"

"Ja toll, ich auch nicht!"

"Wie? Warum das denn?"

"Keine Ahnung man, ich dachte, du wüsstest das!", Lydia sieht zerzaust, nun aber vor allem verwirrt aus, da die Situation so absurd ist.
Sie schließt kurz die Augen und fängt sich:

"Okay. Überlegen wir mal. Ganz ruhig bleiben. Dir war übel. Wir haben uns hingesetzt. Und dann?"

"Keine Ahnung, dann bin ich ohnmächtig geworden."

"Ich hab noch nach deiner Hand gegriffen. Dann weiß ich auch nichts mehr."

Wir schweigen. Jeder überlegt für sich.

"Olivia?"

"Ja?"

"Du hast mir doch nicht irgendwas eingeflößt, oder?"

"Wie bitte?"

"Na ja, irgendwelche Drogen oder so?"

"Oh Gott, nein! Seit wann nehme ich denn bitte Drogen?!"

"Sorry, hätte ja sein können. Fällt dir eine plausiblere Erklärung ein?"

Nein, ich habe keine.

"Vielleicht hat uns ja jemand Anderes welche eingeflößt?", versuche ich.

"Wann denn? Es hatte niemand Gelegenheit dazu."

Ich zucke mit den Schultern.

"Wieso ist es eigentlich so verdammt warm?", frage ich schließlich.

"Keine Ahnung, hab ich mich auch schon gefragt. Sind wir im Ausland oder so?"

"Wie sollen wir da denn hingekommen sein?"

"Weiß mans? Schau mal auf die Uhr."

"Halb 6. Aber der Sekundenzeiger bewegt sich nicht. Stehengeblieben."

"Bei mir auch. Exakt um halb 6."

Wir sehen uns an. Die ganze Sache ist mehr als nur merkwürdig.

"Hast du dein Handy dabei? Ich hab meins im Hotel gelassen.", fragt Lydia.

Mein Handy, natürlich! Ich greife in meine Hosentasche und spüre es erleichtert in meiner Hand. Irgendwie habe ich erwartet, dass es nicht da ist.

Ich versuche Whatsapp zu öffnen, aber es funktioniert nicht. Außerdem habe ich kein Netz. Trotzdem versuche ich meinen Bruder anzurufen, aber ich komme nicht durch.

"Es funktioniert nichts. Gar nichts.", teile ich Lydia mit.

Wieder sitzen wir ratlos da.

"Okay, wir gehen einfach ein Stück.", meint Lydia schließlich. "Irgendwo gibt es doch bestimmt Straßenschilder. Notfalls fragen wir jemanden."

Ich stimme wortlos zu, da ich sowieso keine bessere Idee habe. Wir stehen auf und latschen über die riesige Grasfläche, die sich als Park entpuppt. Wir sind keine 5 Minuten gegangen, als wir Teenager, Familien, alte Leute oder Menschen in Anzügen sehen. Alle genießen das schöne Wetter und alle, abgesehen von den Leuten in Anzügen, sind entsprechend gekleidet.
Lagen wir im Koma oder was? Warum ist es so warm?!
Wir laufen weiter, aber nichts hier kommt uns auch nur irgendwie bekannt vor.
Lydia fragt ein paar Leute nach unserem Hotel, aber alle behaupten, noch nie von einem solchen Hotel gehört zu haben. Als wir fragen, in welcher Stadt wir uns befinden, werden wir zwar dumm angeguckt, kriegen schließlich aber eine Antwort. Angeblich befinden wir uns in Godrics Hollow, einer Kleinstadt. In welcher Welt gibt es bitte ein Godrics Hollow?!
Nach über einer Stunde Marsch halten wir in einem ruhigen Wohngebiet.

"Okay. Wir sind in einem Kaff, das ich definitiv auf noch keiner Landkarte gesehen habe und ich wage zu bezweifeln, dass es auf einer zu finden ist. Wir haben keine Ahnung, wie wir hier her gekommen sind und scheinen 2 Jahreszeiten übersprungen zu haben. Irgendwas stimmt hier nicht und wenn das ein schlechter Scherz sein soll, dann ist er jetzt nicht mehr witzig.", sage ich und versuche nicht auszurasten.

"Das klingt jetzt verrückt, aber Godrics Hollow kommt mir bekannt vor. Ich kann es nur nicht zuordnen.", Lydia sieht nachdenklich aus.

"Dann überleg mal bitte, vielleicht fällt dir dann auch ein, in welchem Staat wir uns überhaupt befinden.", ich bin nicht wirklich überzeugt. Ich bin gut in Geografie, diese Stadt müsste mir zumindestens bekannt vorkommen.

Plötzlich wird Lydia weiß wie eine Wand.

"Oh nein, sag nicht, jetzt wird dir übel."

"Olivia."

"Ja."

"Ich weiß, wo wir sind."

"Na sag schon!"

"Wir sind in dem Buch, Olivia."

Alles klar, jetzt dreht sie durch.

"Sehr witzig."

"Ich meine es verdammt ernst. In dem Buch zieht Amy in ein kleines Kaff. Godrics Hollow. Jetzt wird mir alles klar. Der Park in dem wir waren, das ist der Stadtpark. Dort trifft sich Amy oft nachts mit ihren Freunden. Der Park sieht genauso aus wie Liane ihn beschrieben hat. Oh mein Gott. Olivia! Das ist so krass!"

"So langsam glaub ich echt, du hast irgendwas genommen."

"Ich weiß, dass das total absurd klingt. Aber überleg mal. Du bist unhöflich zu der Autorin. Dir wird schlecht. Wir werden ohnmächtig und wachen in einem Park auf, der genauso ist wie in dem Buch. Es ist Sommer, ganz plötzlich. Der Anfang des Buches spielt auch im Sommer.  Niemand hier kennt unser Hotel. Die Stadt heißt genauso wie im Buch. Wie willst du das erklären?"

"Jemand verarscht uns oder so, keine Ahnung. Aber wir sind bestimmt nicht in irgendeinem Kitsch-Roman.", meine ich halbherzig.
Ich habe auch keine Erklärung für das ganze hier, aber Lydias Theorie ist unmöglich. So etwas geht nicht, das passiert nur in Filmen.
Lydia will etwas erwidern, als sie erneut erstarrt.

"Was ist denn jetzt schon wieder? Ein Geistesblitz?"

Lydia deutet mit dem Finger auf einen Briefkasten und ich gehe näher heran, da meine Augen nicht die besten sind.

Meine Augen weiten sich.
Auf dem Briefkasten stehen 3 Nachnamen.
Meiner, Lydias und der von Liane Nickelson.

Between The Lines #Wattys2018Where stories live. Discover now