Für mich war sie das auch immer gewesen, ich hatte sie schon immer dafür geliebt, dass sie das tat was ihr gefiel und dabei keinerlei Wert auf ihren Ruf als Tys Schwester gelegt hatte.
Aber heute erinnerte sie mich wirklich ziemlich an Tyler.
Ich musste Ty fast jedes Wochenende nach Hause führen, da er sich viel zu viel volllaufen gelassen hatte. Bei ihr war ich das überhaupt nicht gewohnt. Ich fragte mich, ob das die neue Tess war. Ob sie in letzter Zeit immer wieder feiern ging und sich betrank. Aber ich versuchte nicht zu viele Gedanken daran zu verschwenden, denn es sollte mich eigentlich überhaupt nicht mehr angehen, was sie jetzt tat. Wir waren nicht mehr zusammen, ihr Bruder war nicht mehr da und sie hatte das Recht darauf, ein neues Leben beginnen zu wollen. Nur das Problem war, dass es mir nicht egal war, was sie jetzt tat. Es tat weh, sie so anders zu erleben.
„Du-hu?" meinte Tess nach einer Weile, als sie jenes Lied beendet hatte, das ich vor wenigen Jahren zusammen mit Michael und Tyler im Haus ihrer Eltern geschrieben hatte.
„Hm?" gab ich zurück und versuchte mich weiter auf den Weg vor uns zu konzentrieren. Sie war nicht schwer, aber auch nicht gerade leicht zu tragen. Und sie erschwerte es mir noch zusätzlich damit, dass sie schon bald damit anfing, mit ihren Fingerspitzen kleine Kreise an meinem Schlüsselbein entlang zu zeichnen. Es kitzelte leicht, fühlte sich aber auch verdammt gut an. Seit der Sekunde als ich sie verloren hatte, träumte ich davon, ihr endlich wieder so nahe zu sein, sie in meinen Armen halten zu können und ihre kleinen, sachten Finger an meinem Körper zu spüren. Nun war es endlich so weit, auch wenn ich mir nicht ganz so sicher war, ob das die Tess war, die ich seit Jahren mehr liebte alles andere. Aber es war okay, denn sie schien glücklich zu sein. Betrunken, aber glücklich.
„Ich sollte dich eigentlich hassen, weißt du das?" fuhr das Mädchen in meinen Armen fort und ich konnte nur nicken. Ich wusste ganz genau, was sie damit sagen wollte, und ich wusste auch, dass sie das Recht darauf hatte, mich mehr zu hassen als alles andere auf dieser Welt.
„Ich weiß." Gab ich deshalb in einem Flüsterton begleitet mit einem tiefen Schmerz in mir.
„Becca..." fügte Tess hinzu und gab kurz darauf ein Würggeräusch von sich, das ich ihr nicht übelnehmen konnte.
„Es tut mir so leid." Flüsterte ich erneut und versuchte ihr in die Augen zu blicken, aber ich schämte mich viel zu sehr und in dem Moment war ich irgendwie froh, dass sie betrunken war und sowieso kaum was um sich verstand. Trotzdem aber erwiderte sie meinen Blick, sie sah mich mit denselben Augen an, von denen ich die ganzen letzten Monaten in meinen Träumen verfolgt wurde. Ihre wenn auch glasigen grauen Augen sahen direkt in meine, ihre vollen Lippen waren zu einem schwachen Lächeln geformt. Ich hatte sie seit einer Ewigkeit nicht mehr von so nahe betrachtet, sie war einfach nur bildhübsch, das war sie schon immer gewesen. Auch wenn sie heute viel zu viel geschminkt war, denn ihre Wimpern waren ziemlich verklumpt, um ihren Augen war alles voller verschmierter Schminke und auch der Lippenstift war nur mehr zum Teil auf ihren Lippen. Erneut fragte ich mich, ob das hier wirklich die neue Tess war. Nicht mehr Tess, die das totale Gegenteil von ihrem Bruder war, sondern nun wirklich Little Ty, da sie nun ziemlich ihrem Bruder zu ähneln begann. Tess, die auf ihre Bücher verzichtete, um sich auf Partys zu betrinken, mit fremden Jungen rumknutschte, sich beinahe ohnmächtig in den Pool fallen ließ und sich dann von anderen nach Hause tragen ließ.
Nun war sie ziemlich wie ihr großer Bruder, und das gefiel mir irgendwie überhaupt nicht. Am meisten schmerzte es darüber nachzudenken, dass sie genauso wie ihr Bruder mit jeden Kerl rummachte, der ihr auch nur zuzwinkerte. Ich wusste, dass sie vor mir keinen Jungen geküsst hatte, dass sie erst nach einem Jahr Beziehung dazu bereit gewesen war mit mir zu schlafen und dass sie das mit der Liebe ziemlich ernst nahm. Aber zum Beispiel hatte ich sie heute dabei erlebt, wie sie mit einem Jungen ziemlich innig gewesen war. Sie hatten nicht vor mir rumgemacht oder so, aber er hatte sie ziemlich hungrig durch die Menschenmenge gezogen und auch sie hatte diesen Blick gehabt, den sie bei mir ziemlich oft gehabt hatte, wenn sie voller Lust auf meinen Körper gewesen war. Ich versuchte aber nicht daran zu denken, wie sie sich küssten oder sogar miteinander schliefen. Ich hatte den Kerl nicht gesehen, ich hatte auch nicht gesehen, wie sie rumgemacht hatten. Vielleicht war da ja wirklich nicht passiert, wer weiß. Aber die Wahrheit war, dass ich keine Ahnung hatte und ich auch nicht eher darüber nachdenken wollte. Tess war nicht mehr meine Tess, sie hatte ein neues Leben begonnen, und ich glaubte mir sicher zu sein, dass ich darin keine Rolle mehr spielen sollte.
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Unavoidable ~ With Or Without You
Teen Fiction❝ Narben erinnern uns an das Erlebte, aber sie definieren nicht unsere Zukunft ❞- Mark Twain Das Leben ist kein Wunschkonzert, soviel ist Tess im letzten Jahr mehr als klar geworden. Denn noch vor einem Jahr hatte sie alles, ihr Leben schien per...
Epilog
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