Todeszug

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Sie holten uns abends, ließen uns keine Zeit, unsere Wertsachen zu packen. Auf dem Bahnhof wurden wir zusammengepfercht. Fragende Blicke der anderen. Dann rollte die Lokomotive in den Bahnhof ein. Die Menschen wurden unruhig. Maschinengewehre waren auf uns gerichtet, als wir mit unserem wenigen Gepäck in die Viehwaggons einstiegen. Eine Frau schrie. Sie rannte aus der Menge. Ein Schuss. Die Frau lag reglos am Boden. Mütter hielten ihren Kindern die Augen zu.

Es waren viele Menschen im Waggon. Alte Männer und Frauen, junge Ehepaare, Ärzte, Bauern, Richter, Kinder. Eine Frau hielt einen Säugling in den Armen. Ungewissheit in jedem Gesicht.

Es gab nur einen Eimer Wasser im Waggon. Die stillende Mutter wollte ein Vorrecht darauf, ein zuckerkranker alter Mann ebenfalls. Väter kämpften für ihre Kinder. Es gab nicht genug Wasser.

Wir fuhren und fuhren die ganze Nacht. Wir standen eng aneinander, berührten die Körper der anderen, fühlten ihr Zittern. Wir hatten längst unsere warmen Sachen ausgezogen, standen dort in Unterwäsche. Es war heiß, so unerträglich heiß und der Zug machte immernoch keine Anstalten anzuhalten. Die Kinder weinten stumme Tränen.

Irgendwann wird der Zug langsamer. Wir hören das Quietschen der Bremsen und das schrille Pfeifen der Lokomotive, als der Zug im Bahnhof zum Stehen kommt.
Die SS-Männer laufen auf dem Bahnsteig. Wir flehen um Wasser. Sie geben uns keins. Sie lachen uns aus, beschimpfen uns als Judenschweine. Wir sind nicht mehr wert als Vieh, sagen sie. Schweine auf dem Weg zum Schlachthaus.

Wir fahren weiter. Der zuckerkranke Mann liegt am Boden, die Augen schwarz vom Tod. Der Säugling schreit. Womit haben wir das verdient? Wir beten zu Gott. Hört uns Gott? Gott hat uns verlassen. Unsere Hoffnung hat uns verlassen.

Es stinkt. Der Geruch von Blut und Kot vermischt sich mit dem der verwesenden Menschen. Sie liegen dort auf dem Boden. Es sieht aus, als würden sie schlafen. Ich fühle mich schmutzig. Ekle mich vor mir selbst, ekle mich vor den Berührungen anderer. Der Säugling stirbt. Er hört einfach auf zu atmen in den Armen seiner Mutter. Sie schreit. Ich will ihr helfen, sie trösten, doch ich bin zu schwach.

Ich habe Durst. Meine Kehle schreit nach Wasser, nach irgendetwas Flüssigem. Der Durst schnürt sich wie Stacheldraht um meinen Hals, meinen Nacken, bis runter an meine Fingerspitzen. Es tut so weh. Ich möchte schreien, weinen, doch da ist kein Wasser, dass aus meinen Augen hätte kommen können. Ich bin wie ein versiegter Brunnen.

Nach stundenlanger, tagelanger Hitze kommt ein Gewitter. Die Regenbäche stürzen vom Himmel, trommeln auf das Waggondach. Es klingt wie Applaus. Der Himmel applaudiert mir, dass ich es bis hierher geschafft habe. Ich suche jeden Tropfen Wasser, den ich bekommen kann, genieße es, wie das kühle Wasser meinen Hals runter läuft. Ich schöpfe neuen Mut.

Noch 15 Leute sind am Leben. Wir reden nicht. Ich sehe ihre Gesichter. Ausdruckslose, eingefallen Gesichter. Nur aus den Augen spricht der Schmerz, den auch ich empfinde.

Die Welt ist schön. Um mich herum ist eine weite Wiese. Kinder spielen dort fangen. Sie sehen so glücklich aus. Eins von ihnen hat einen gelben Stern auf dem Kleid. Ich sehe mich genauer um. 14 halbtote Menschen liegen dort in Blut und Kot. Die Welt ist nicht schön.

Der Zug wird langsamer. Das Quietschen von Metall auf Metall ist Folter für mich. Ich halte das nicht mehr aus. Die Waggontüren öffnen sich. Luft! Luft strömt in meine Lungen, hilft mir atmen. Wir werden aus den Waggons gezerrt, blinzeln ins Licht. Wir sind in Auschwitz. Schnee rieselt auf uns herab. Grauer Schnee. Toter Schnee. Ein Mann kommt auf mich zu. Schlägt mich. Tritt mich. "Nach rechts!" brüllt er mich an und schubst mich auf das Gebäude mit dem großen schwarzen Schornstein zu.

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