Kapitel 12

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Es fing bereits an zu dämmern, als ich mich in mein kleines Auto setzte und los fuhr. Nach dem gestrigen Erlebnis hatte ich beschlossen, über das Wochenende meine Großmutter in Castvillage zu besuchen. Sie lebte dort, seit ich klein war, in ihrem gemütlichen Hexenhaus. Ich nannte es in Gedanken immer so, da es mich an das Lebkuchenhäuschen aus „Hänsel und Gretel" erinnerte. Es hatte ein spitzes Dach und vor der Haustür stand eine alte Holzbank. Auf ihr thronte immer Spencer, ein schwarzer Kater, welchen meine Großmutter abgöttisch liebte.

Er hatte sich auch wieder an seinem Stammplatz drapiert und beobachtete mich genau, als ich langsam die Auffahrt zum Haus hinauffuhr. Die Abendsonne lies sein pechschwarzes Fell glänzen und er bleckte seine spitzen weißen Zähne, als er müde gähnte. Ich ging an der Bank vorbei und kraulte ihn kurz zwischen den Ohren. Er quittierte meine Begrüßung mit einem leisen Grummeln.

„Huch, Elena Liebes, was treibt dich denn hier her?", begrüßte mich meine Granny und umarmte mich herzlich.

„Ach, einfach so. Ich brauchte etwas Ruhe und Entspannung.", brummte ich in ihre Schulter.

Es war immer so beruhigend und vertraut zugleich gewesen, bei ihr zu sein. Ich sog ihren Duft in mich auf und fühlte mich in meine Kindheit zurückversetzt. Zeiten, in denen Liam und ich durch die Wälder gehüpft waren und ohne Sorgen gespielt hatten. Ein kurzer Stich in meiner Magengegend erinnerte mich wieder daran, weshalb ich meine Granny besuchte. Ich wollte etwas Abstand gewinnen, zu den Ereignissen der letzten Tage und Wochen. Etwas tief in mir, wusste genau, dass dies alles nicht nur ein reines Gespinst meiner lebhaften Fantasie gewesen war.

Kurz lies ich die Geschehnisse in meinem Kopf Revue passieren. Ich hatte mir Emilys seltsames Verhalten, nach Erwähnung des Fremden aus der Bar, nicht ausgedacht oder eingebildet. Ebenso erinnerte ich mich noch genau an den gestrigen Joggingausflug, meinerseits nachts. Auch das kurze Auftreten der Flashbacks, die ich, wie die vorherigen. als Tagtraum oder Fantasie abgetan hatte, war keine Einbildung gewesen. Zwar war ich in meinem Bett aufgewacht und konnte mich nicht erinnern, dort hingekommen zu sein. Doch bestätigte mich die Tatsache meiner Sportkleidung, welche ich noch immer trug, dass das gestrige Erlebte keine Fantasie gewesen war. Ständig echoten das Gespräch in meinem Kopf herum und ich versuchte es in Verbindung mit alledem zu setzten, doch es gelang mir beim besten Willen nicht. Und genau dies war der Grund für meinen Besuch. Ich brauchte Ruhe und Abstand um einen klaren Gedanken fassen zu können.


Meine Großmutter holte ein paar Holzscheiten und legte sie in den offenen Kamin vor uns. Sie stocherte etwas in der Glut herum und setzte sich wieder zu mir auf die Couch. Spencer sprang sofort auf ihren Schoß und ließ sich kraulen.

„Also, was ist los, Liebes?", sie sah mich über den Rand ihrer großen Brille an und lächelte liebevoll.

„In letzter Zeit sind so seltsame Dinge passiert. Ich weiß nicht genau, was ich davon halte oder machen soll.", versuchte ich ihr zu erklären und drehte nervös die Tasse Tee in meiner Hand.

„Was ist denn passiert?", ihre Mundwinkel umspielte ein wissendes Lächeln und ich erzählte ihr von den Ereignissen der letzten Tage.

Sie nickte an einigen Stellen und hörte mir aufmerksam zu. Als ich geendet hatte, blieb sie ruhig sitzen und kraulte weiter den Kater, der wohlig vor sich hin schnurrte. Ihr Blick war auf das Feuer gerichtet und sie sah Jahre gealtert aus.

„Ich denke wir haben lange genug gewartet, Elena.", unterbrach sie die Stille.

Wieso dachten alle in meiner Umgebung, in einer kryptischen Sprache mit mir kommunizieren zu müssen? Ich starrte meine Granny verdutzt an. Sie bemerkte meinen irritierten Blick und fing an zu lächeln.

„Warte kurz! Ich bin gleich wieder da.", sagte sie und verschwand die Treppe hinauf.

Langsam aber sicher konnte ich mir keinen Reim mehr auf das Ganze machen und dennoch war ich neugierig. Neugierig darauf, was meine Großmutter meinte und was Emily und Liam vor mir geheim hielten.

Die näher kommenden Schritte rissen mich wieder aus der Gedankenwelt in die Realität. Sie setzte sich wieder zu mir auf die Couch und hielt eine kleine Kiste in der Hand. Verschwörerisch grinste sie mich an und strich behutsam darüber.

„Ich habe deinen Eltern und Liam versprochen, sie dir nicht zu geben. Nicht, bevor deine Erinnerungen von allein zurückgekehrt sind. Aber Versprechen sind da, um sie ab und an zu brechen, nicht?", sie zwinkerte mir geheimnisvoll zu und überreichte mir die Schachtel. Ein Energiewall überkam mich und ich nahm sie mit zittrigen Händen entgegen. Waren dort Antworten auf meine Fragen? Auf all die seltsamen Ereignisse der letzten Zeit? Ich wollte gerade etwas meiner Granny sagen, als ich bemerkte, dass sie bereits aus dem Raum gegangen war.

Nun waren vor dem Kamin nur noch ich und diese mysteriöse dunkle Schachtel. Meine Neugierde überkam mich wieder und ich spürte das Kribbeln in meinen Fingern. Es drängte mich dazu, endlich den Deckel zu öffnen. Ich kostete noch einige Minuten den Moment aus, bevor ich sie vorsichtig öffnete.


Die NarzisstinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt