Kapitel 13: Die unaufhaltsame Kraft

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Montag, 07:40 Uhr. Ich bin auf dem Weg zur Schule. Meine Mutter versucht mittlerweile wieder, sich normal zu verhalten, was ihr allerdings nicht sonderlich gut gelingt. Sie verliert oft die Fassung und hat manchmal sogar Tränen in den Augen. Ich frage mich wirklich, was mit ihr los ist. Es ist, als würde sie uns irgendwas verheimlich, was sie allem Anschein nach auch tut. Mein Vater weiß nicht mehr weiter. Er will irgendwie an sie rankommen und sie zum Lachen bringen, doch leider muss er immer wieder eine Niederlage einstecken. Ich würde ihm gerne helfen, weiß aber nicht wie. Immerhin muss meine Mutter etwas ändern, nicht ich. Mandy redet seit der Nacht, in der ich mich zu ihr ins Bett gelegt habe, nicht mehr mit mir, was jetzt schon fast 28 Stunden her ist, also sollte sie sich langsam mal wieder zusammenreißen. Kurz und knapp zusammengefasst: In meiner Familie sieht es momentan nicht so gut aus. Wie sich auf dem Schulhof herausstellt, ist das allerdings nicht mein größtes Problem. Oh nein, ich sehe gerade noch ein viel größeres Problem auf mich zukommen. Mickey und Ethan prügeln sich, was schon ziemlich heftig aussieht. Ethan hat bereits ein blaues Auge und eine blutende Nase, Mickey hat bis jetzt zum Glück nur ein paar Kratzer. Der eigentliche Mist ist aber, dass niemand außer mir hier ist. Das heißt unglücklicherweise, dass ich in irgendeiner Weise handeln muss. Ich entscheide mich natürlich für die falsche Weise und mische mich in die Prügelei ein (selbstverständlich nur mit Worten). „Jungs, was wird das hier? Ihr habt sie doch nicht mehr alle!", lenke ich ihre Aufmerksamkeit auf mich, sodass sie sich wenigstens für ein paar Sekunden in Ruhe lassen. „Dieses Arschloch hat meinen Freund angefasst, das lasse ich nicht einfach so auf mir sitzen!", brüllt Ethan so laut, dass ich froh bin, dass keine Lehrer in der Nähe sind. Gut, es geht hierbei also um Ian, das habe ich mir schon gedacht. „Ich habe ihn nicht angefasst, verdammt!", verteidigt Mickey sich und schubst Ethan nach hinten. Da es so aussieht, dass gleich die nächste Schlägerei losgeht, mische ich mich wieder ein. „Ethan, ich kann das bestätigen. Mickey hat gar nichts mit Ian gemacht, okay?", sage ich ruhig. Ethan schüttelt den Kopf und funkelt Mickey aggressiv an, was mir schon ein bisschen Angst macht. „Siehst du nicht, was sie sich für Blicke zuwerfen? Dieses Arschloch steht auf ihn, das sieht selbst ein Blinder. Er will sich an ihn ranmachen, das ist doch offensichtlich. Aber Ian gehört mir und das sollte er langsam mal checken", kommt es von einem mehr als wütenden Ethan. Ich seufze. Diese Situation ist aussichtslos. Jungs können manchmal so dumm sein! „Du redest von Ian, als würdest du ihn besitzen. Wer ist hier das Arschloch?", entgegnet Mickey, allerdings nicht aggressiv oder aufgebracht, sondern gefährlich ruhig, was mir fast noch mehr Angst einjagt. Ethan lacht nur und zeigt ihm den Mittelfinger. „Mickey, ich glaube du hast es immer noch nicht verstanden. Ian ist mein Freund, natürlich besitze ich ihn. Finde dich damit ab, dass er mich geiler als dich findet." Ich spüre, wie der Hass in Mickey aufsteigt und sich langsam in ihm ausbreitet. Das ist gar kein gutes Zeichen. Er will Ethan gerade mit der Faust direkt ins Gesicht schlagen, da hält ihn eine sanfte Stimme auf. „Was soll das werden?" Ich drehe mich um und plötzlich steht Ian vor mir. Erleichtert atme ich aus. Wäre er nicht gekommen, hätte die Prügelei böse enden können. „Die Jungs prügeln sich wegen dir", rutscht es mir raus, ehe ich mich stoppen kann. Ian sieht sie mit großen Augen an, dann zieht er fragend seine Augenbrauen hoch. „Könnt ihr mir das erklären?", verlangt er und verschränkt die Arme vor der Brust. In diesem Moment finde auch ich ihn unheimlich attraktiv, was allerdings nicht mit den Gefühlen der Schlägertypen zu vergleichen ist. Die sind fast schon vernarrt in ihn. „Er ist verknallt in dich und ich hab ihm klargemacht, dass du mir gehörst", erklärt Ethan knapp und trägt dabei ein fieses Grinsen auf den Lippen. Mickey muss sich zusammenreißen, um ihn nicht doch noch zu schlagen. Ians Blick wird weich, allerdings gilt dieser Blick nicht seinem Freund. Er fängt sich jedoch relativ schnell wieder. „Indem du dich mit ihm prügelst? Super Ethan, wer hat mir letztens noch gesagt, dass Gewalt keine Lösung ist? Ich glaube, das warst du." Ethan sieht ihn fassungslos an. „Jetzt gibst du mir die Schuld? Er hat angefangen, ich habe mich nur verteidigt. Guck uns doch an, ich habe viel mehr Wunden als er. Beweist das nicht genug?" Ian lacht leise. „Das beweist nur, dass er härter zuschlagen kann als du", disst er seinen Freund. Jetzt steht Ethan tatsächlich der Mund offen. „Ich kann's nicht fassen, Ian. Du verteidigst diesen..." Er fuchtelt mit den Armen in der Luft herum, was irgendwie ziemlich peinlich aussieht. Als Ian nur mit den Schultern zuckt, dreht Ethan sich um und geht. „Ihr scheiß Pisser!", schreit er über den ganzen Schulhof, bevor er die Tür öffnet und aus unserem Sichtfeld verschwindet. So habe ich ihn noch nie erlebt. Sonst tut er immer einen auf Obermacker, aber in Wirklichkeit ist er nur ein eifersüchtiger kleiner Junge, der nicht weiß, was er mit seinem Leben anfangen soll. „Das war ja mal 'ne geile Nummer", murmelt Mickey, während er sich mit zitternden Händen eine Zigarette anzündet. Muss er denn wirklich immer rauchen? „Hey, bist du okay?", erkundigt Ian sich schüchtern. Mickey zuckt mit den Schultern, ohne ihn anzusehen. Da geht Ian auf ihn zu und nimmt sein Gesicht in die Hände, sodass der Schwarzhaarige gezwungen ist, ihm in die Augen zu schauen. Als Ian mit dem Zeigefinger über den Kratzer unter Mickeys linkem Auge fährt, bekomme ich eine Gänsehaut. Wie muss es sich dann wohl für die Jungs anfühlen? „Brauchst du irgendwas?", fragt Ian leise. Mickey schüttelt den Kopf, wobei er den Blickkontakt nicht eine Sekunde lang unterbricht. Sie sind sich so nah, dass ich schon fast mit einem Kuss rechne, da klingelt es und die Jungs lösen sich schlagartig voneinander. Ian räuspert sich. „Gehen wir?", wendet er sich an mich, als wäre nichts passiert. Mickey spielt das Spiel anscheinend mit, also tue auch ich so, als wäre nichts passiert, obwohl ziemlich viel passiert ist. „Wäre wohl besser", sage ich so normal wie möglich, während die Jungs sich schon wieder verlangende Blicke zuwerfen. Wie lange wird es wohl noch dauern, bis sie übereinander herfallen? Wir kommen natürlich zu spät in den Unterricht, aber zum Glück haben wir Mr. Ball. Der kennt uns immerhin schon und nimmt es uns nicht übel.

Die unaufhaltsame KraftWo Geschichten leben. Entdecke jetzt