Erst, als es draußen schon langsam dämmerte, stieg ich am Hauptbahnhof in die S11, die mich zu unserem Hotel im szenigen Schanzenviertel zurückbrachte. Eine plausible Erklärung war mir nicht eingefallen, darum beschloss ich, es einfach auf die Drogen zu schieben, die ich am frühen Morgen schon grundlos eingenommen hatte. Da ich das manchmal tatsächlich tat, würde man mir das schon abkaufen, auch wenn es heute mal nicht stimmte.
Am Hotel angekommen, zündete ich mir noch eine letzte Zigarette an und sammelte mich.
Ich sagte mir, dass alles, was ich da dachte, nur bedeutungslose Hirngespinste waren. Ich redete mir ein, dass alles, was ich da fühlte nur irgendwelche Nebenwirkungen von Drogen wären, von denen ich in letzter Zeit sowieso nicht gerade wenig konsumiert hatte. Ich redete mir ein, dass das Verhalten von Lukas einfach nur an seiner unbedarften, jugendlichen Art lag und dass er sich dabei rein gar nichts dachte. Er war ja gerade mal vierundzwanzig geworden und somit ganze sechs Jahre jünger, als ich. Zwar wirkte er im Allgemeinen schon sehr reif für sein Alter, aber trotzdem war er manchmal noch etwas flapsig.
Als meine Zigarette aufgeraucht war, war es an der Zeit, endlich wieder zu den Anderen zu gehen und mich wieder normal zu verhalten.
Also ging ich hoch, nahm noch einen tiefen Atemzug und öffnete dann die Tür zu Bennis Hotelzimmer, wo ich auch schon die Stimmen der Anderen vernahm.

„Timi, da bist du ja wieder", kommentierte Stefan mein Erscheinen.
Ich grinste und sah mich im Raum um. Wie der Zufall es so wollte, war das Dreiersofa natürlich vollständig belegt und es blieb nur noch ein Platz bei Lukas auf diesem winzigen anderen Teil übrig, von dem keiner so recht wusste, ob es ein Sofa für zwei extrem schmale Menschen, oder ein Sessel für einen breiten war.
Gerade, als ich mich doch lieber aufs Bett setzen wollte, löste Lukas sich aus seinem Schneidersitz und rückte ein Stückchen zur Seite. Dann musste ich mich wohl doch neben ihn setzen. Aus welchem Grund sollte ich das jetzt auch nicht tun?

„Wo warst du denn den ganzen Tag, Timi? Wir haben dich vermisst", sagte Lukas und gab sein typisches, angetrunkenes Kichern von sich.
„Ach ich war nur mal so ein bisschen unterwegs. Ich hatte heute Morgen eine Nase Speed und musste dann ganz dringend was unternehmen. Ihr wisst ja, wie das ist."
Stefan seufzte tief. „Hättest du was gesagt, hätte ich doch mitgemacht."
„Beim nächsten Mal", sagte ich und lächelte ihn versöhnlich an. Damit war das Thema dann auch schon gegessen.

„Da du Dreck nicht da warst, haben wir schon ohne dich beschlossen, dass wir heute nochmal feiern gehen", teilte mir Benni mit.
„Alles klar, heute bin ich aber nicht der Aufpasser. Ich werde heute keine Kotze wegwischen und ich trage auch keine Leute nach Hause."
Nur für ein paar Stunden mal den Kopf abschalten...
„Das hast du gestern aber schön gemacht", meinte Lukas und legte mir seinen Kopf auf die Schulter. Als ob das noch nicht reichen würde, streichelte er dazu noch sanft meinen Unterarm.
Ich konnte jetzt nicht schon wieder die Flucht ergreifen. Das wäre doch dann mehr als auffällig. Daher entschied ich mich für die Flucht nach vorne und gab Lukas einen lauten Schmatzer auf die Stirn. „Für dich doch immer, mein Schätzchen."

Als ich Lukas dann zwei Stunden später in dem Nachtclub, für den wir uns entschieden hatten, eng mit einer schwarzhaarigen Sexbombe tanzen sah, fiel mir auf, wie lächerlich meine ganzen Befürchtungen, dass Lukas etwas Komisches von mir wollen könnte, eigentlich waren.
Er stand doch nun wirklich nicht auf Männer. Wann immer wir unterwegs waren, flirtete er, was das Zeug hielt, knutschte ungehemmt herum oder verschwand mit irgendwelchen Frauen in Hotelzimmern oder versteckten Ecken.
In letzter Zeit, besonders seit sein Soloalbum so dermaßen eingeschlagen hatte und er damit bekannter geworden war, machte er das zwar etwas diskreter, um sich keinen schlechten Ruf einzuhandeln, aber trotzdem tat er es noch.
Erleichtert beobachtete ich ihn noch kurz dabei, wie er die Dame immer näher an sich ran drückte und sie schon mit seinen Blicken fickte. Als ich genug gesehen hatte, ließ ich mich von Benni und Stefan zum koksen zu den Toiletten ziehen und alle meine Gedanken lösten sich in Luft auf. Die kommenden Stunden tanzten wir wie die Wilden und zogen direkt nach, sobald die Wirkung auch nur ein bisschen nachließ.

Zehn SekundenWhere stories live. Discover now