Kapitel 10: Bestandsaufnahme

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Meine Hände zitterten, jede einzelne Faser meines Körpers rebellierte. Ich versuchte, aufzustehen.Es wollte mir nicht gelingen.

Wo war ich?

In meinem Unterschlupf.

Welcher Tag war heute?

Freitag. Es musste irgendwann morgens sein, wie mir ein Blick aus dem Fenster zeigte.

In einer der Wohnungen nebenan lief der Fernseher.

Irgendeine Show mit eingespieltem Gelächter.

Ich hatte mal irgendwo gelesen, die Fernsehindustrie würde seit den 1950er Jahren dieselben Aufnahmen für eingespieltes Gelächter verwenden. Das Lachen der Toten, während ich einen erneuten Versuch unternahm, aufzustehen. Irgendwie passend. Ich fiel hin, kroch auf allen Vieren in Richtung Badezimmer, wo ich mich erst einmal in die Toilette übergab. 

Was war gestern geschehen?

Ich versuchte, zu rekapitulieren.

Die Fähre.

Nadja.

Bob.

Die Schläger.

Langsam kehrte die Erinnerung wieder.

***

Nachdem wir Bobs nunmehr renovierungsbedürftige Bar verlassen hatten, war ich mit Nadja zurück zur Fähre gegangen. Ich wusste, dass die Drogen nicht ewig halten würden; irgendwann während der Überfahrt würde sie wieder vollständig Herrin ihrer Sinne werden. Bis dahin musste ich so weit weg wie möglich sein; ich wollte wirklich nicht wissen, wozu sie fähig war, wenn ihr Geist nicht vernebelt wäre.

Darum ließ ich sie einfach in der Fähre sitzen, während ich mich zurück an Land begab. Ich wollte zuerst noch in meiner Wohnung nach dem Rechten sehen, bevor ich zurück nach Nowhere City fuhr.

Ich war noch nicht weit gekommen, als ich einen durchdringenden Brandgeruch wahrnahm. Wieso war er mir zuvor nicht aufgefallen? Andererseits waren die Gerüche in Hafennähe ja sowieso eher intensiver Natur.

Als ich in die Straße einbog, in der ich wohnte, konnte ich von weitem schon sehen, woher der Geruch kam. Ein Haus stand in Flammen. Die Feuerwehr würde das wohl als "in Vollbrand stehend" bezeichnen. Jedenfalls sah es nicht besonders gut für das alte, staubig trockene Gebäude aus. Diesen Kampf würde das Feuer gewinnen. Auf der Straße liefen die Leute durcheinander und erschwerten den Brandbekämpfern ihre Arbeit zusätzlich - Anwohner, aber auch ein paar Schaulustige und Passanten, die sich nicht um Absperrungen oder Anweisungen scherten. Ich kannte das Gebäude gut; irgendwo da drin verbrannte gerade meine geliebte Akustikgitarre, zusammen mit fast allen meinen Habseligkeiten. Wer zum Teufel...?

Die Typen in der Bar...

Sie waren zuerst hier gewesen. Dieser Gedanke traf mich wie ein Schlag in die Magengrube. Was sollte das Ganze? War es nicht genug für Vince, dass er mich in die Luft gejagt hatte? Aber ich musste zuerst sicher gehen. Ich näherte mich der Absperrung der völlig überforderten Feuerwehr, bei der mittlerweile 2 oder 3 Polizisten aushalfen und blieb davor stehen. Ein junger Beamter kam auf mich zu.

"Bitte zurücktreten, Sir."

"Ich wohne hier."

"Oh, das tut mir Leid, Sir. Ich hoffe, sie können irgendwo unterkommen."

"Keine Sorge. Was ist passiert?"

"Das wird wohl ein Sachverständiger klären müssen. Aber sieht nach Gasleck aus."

"Falls genügend übrig bleibt, das untersucht werden kann."

"Sie sagen es, Sir."

Er hatte Recht. Es roch ein bisschen nach austretendem Gas. Das Problem war nur: Die Gasanlage war noch gar nicht in Betrieb gewesen. Sie war das einzig neue, zu dem sich die Besitzer der alten Kaschemme durchringen hatte können, und das auch nur, weil einer der Mieter im Dachgeschoss letzten Winter mit schweren Erfrierungen in ein Krankenhaus eingeliefert worden war.

"Ich denke, ich sollte mal telefonieren. Schönen Tag noch." verabschiedete ich mich von dem Ordnungshüter, drehte mich um und verließ den Tatort in Richtung Piers.

Er sah mir noch etwas betreten nach, ehe er sich dem nächsten Passanten zuwandte, der zum Gebäude wollte.

Verdammt. Alles weg. Wohin jetzt?

Zurück zu Bob würde nichts bringen; 2 der 3 Typen waren sicher tot, der 3. entweder über alle Berge oder auch im ewigen Schlaf gefangen.

Schlaf.

Ich fühlte mich plötzlich so müde.

Am liebsten hätte ich mich einfach auf die Straße gelegt und die Augen zugemacht. Wer weiß? Vielleicht würde ich ja aufwachen und alles würde sich als bloßer Albtraum herausstellen?

Vielleicht würde ich in den Armen meiner geliebten Frau aufwachen in unserem Haus irgendwo auf dem Land, wo uns keiner kannte und wir unbeschwert unsere Kinder großziehen konnten...

"Blödsinn!" rief eine Stimme in meinem Kopf und hatte Recht.

Das hier war die Wirklichkeit; die Liebe meines Lebens war tot und mein kläglicher Versuch eines Neuanfangs kokelte gerade vor sich hin. Außerdem war da noch das Foto von Rachel gewesen, das einzige, das ich – abgesehen von dem Bild in ihrem Pass - noch besessen hatte, eingerahmt auf meinem Schreibtisch. Mein letztes Erinnerungsstück. Weg.

Mein Kopf war der einzige Ort, an dem sie jetzt noch weiterlebte, und selbst damit war es nicht mehr allzu weit her. Der Alkohol hatte seinen Tribut verlangt.

Ich war mindestens 1000 Jahre alt, als ich mein Ticket zog und die Fähre zurück nach Nowhere City bestieg.

Ein dunkler Weg lag vor mir.

***

Eine leere Flasche lag neben meinem Bett. 

Der schale Geruch nach billigem Whisky waberte durch den Raum. Ich musste an die frische Luft.

Zum Glück schien heute die Sonne nicht, in meinem Zustand hätte ich sie wohl kaum ertragen.

Ich versuchte, mir einen Plan zurecht zu legen.

Als erstes versuchen, Nikky zu finden.

Der Doc konnte mir sicher weiterhelfen.

Aber dann musste ich mich auch um ihren Schlägertypen kümmern.

Mein Elektroschocker wäre nicht genug, ich musste Boris auf Abstand halten können. Aber auch das wäre ein lösbares Problem.

Plötzlich wurde mir unheimlich übel. Nur mit Müh und Not schaffte ich es noch rechtzeitig ins Badezimmer.

Das musste aufhören.

***

"Tut mir leid, Ray, aber ich habe wirklich keine Ahnung, wo Sams Tochter steckt." Der Doc schüttelte den Kopf und wirkte ehrlich betroffen. Lag wohl auch an meinem Erscheinungsbild.

"Weißt du, wer mir weiterhelfen könnte?"

"Vielleicht eins der Piermädchen."

Die "Piermädchen" gingen einem recht alten Gewerbe nach. Keine schöne Sache, aber sie waren recht brauchbare Informanten, weil sie viel sahen und zu hören kriegten, das eigentlich nicht für andere bestimmt war.

Der Hafenstrich lag in Sams Hand, gut möglich, dass die Mädchen wussten, wo Nikky war.

"Danke Doc."

"Ray, kann ich sonst noch was für dich tun? Du siehst ziemlich fertig aus."

"Keine Sorge, Doc, ich komm schon durch."

"Dein Wort in Gottes Ohr."

Ich zwinkerte ihm zu, verließ die Praxis und ging zum Hafen.

Mit viel Glück wären die ersten Mädchen schon auf Kundenfang. Mit ganz viel Glück war jemand dabei, den ich kannte.

Jimmy is Dead - ein Noire-KrimiWo Geschichten leben. Entdecke jetzt