Kapitel 5

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Ich hatte Mühe damit, mich aufs Spielen zu konzentrieren, aber es klappte.
Selbst wenn Kris vor mir saß, mit seiner Lieblingsgitarre auf dem Schoß, die ihn seit unserer ersten Tour begleitete. Mit kleinen Konzentrationsfalten auf der Stirn und zugekniffenen Augen hinter den Gläsern seiner Brille, während er komplett in der Musik versunken war und leise vor sich her summte. Mit diesem beruhigenden, liebevollen Ausdruck in seinen weichen Gesichtszügen und der unvergleichbar warmen Ausstrahlung, die er stets hatte, die mir schon bei unserer ersten Begegnung aufgefallen war.

Er ließ die letzten Töne der 6 Saiten nacheinander mit seinem Daumen verklingen und öffnete die Lider.
Er sah mir direkt in die Augen, Braun traf auf Blau und vermischte sich. Ein breites Lächeln stahl sich auf seinen Mund, übertrug sich unvermeidbar auf meinen.
"Das war perfekt!"
Seine Stimme war höher, als sonst. Aufgeregt. Stolz.

Er legte seine Gitarre beiseite und machte einen großen Satz auf mich zu, ehe ich in eine so überschwängliche und feste Umarmung gezogen wurde, dass wir drohten, gemeinsam hinten um zu fallen. "Du warst perfekt.", schoss es mir durch den Kopf.
Seine Arme lösten sich viel zu schnell von meinem Rücken; mir blieb nicht genug Zeit, diesen Moment festzuhalten und zu genießen.
Er ließ mich los und sein Lächeln strahlte noch immer mit dem Leuchten seiner Augen um die Wette. Sein Mund war nur wenige Zentimeter entfernt von meinem, bei der Erkenntnis stockte mein Atem.
Wenige Zentimeter störende Luft, mehr nicht. Mein Herzschlag setzte zeitgleich mit meinem Verstand aus. Die Zeit schien für einen kleinen Augenblick eingefroren, die Welt im Stillstand.
Mein Gesicht wagte sich zögerlich einen kleinen Schritt nach vorn, mein Blick fiel auf seine vollkommenen Lippen.
Er verschwand mit einem begeisterten "Das muss ich sofort den Jungs erzählen!"

Wenig später fand ich mich auf dem alten Holz der Parkbank wieder. Ich glitt mit meinen Fingern darüber und genoss die ersten, kaum merklichen Sonnenstrahlen diesen Jahres.
Ich hatte einfach raus gemusst, einen klaren Kopf bekommen und Abstand gewinnen. Nach diesem Moment der Schwäche und dem mehr als verwirrenden Beinahe-Kuss, den Kris anscheinend glücklicherweise nicht weiter bemerkt hatte. Der heutige Tag hatte mich das erste Mal zu einer völlig neuen, absurden Erkenntnis gebracht; Ich würde irgendwann mit ihm reden müssen.
Bevor so etwas wie eben nochmal geschah, bevor ich mich nicht mehr beherrschen konnte. Wie er wohl reagieren würde? Was würde er sagen? Was sollte ich sagen? Wie sollte ich ihm all das erklären, wenn ich es vor mir selbst nicht einmal konnte?
Ich wusste nicht, was das alles war, doch es war unheimlich stark.
Ich atmete schwer durch.
Ich wusste nur, dass sich dadurch alles von Grund auf verändern würde. Entweder würde alles gut werden, wir würden glücklich sein.
Oder eben, ich würde alles um Unmengen komplizierter machen, unsere jahrelange Freundschaft gefährden, alles kaputt machen. Und nur ich allein war daran Schuld.
Mein Handy vibrierte im Jeansstoff meiner Hosentasche, ich las das aufleuchtende Display.

Niels, 17:49:
"Du warst eben auf einmal weg, ich wollte nur sicher gehen, dass du daran denkst, die Gitarre für morgen abzuholen."

Verdammt.

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