Kapitel 1

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-2012-

"Jay!"
Seine starken Arme platzierten sich blitzschnell fest um meine Schulterblätter und er wog uns warm lachend hin und her. All die unnötige Aufregung fiel mit einem Mal ab, wie ein schwerer Vorhang, der nur auf die Lüftung dessen, was hinter der Bühne bereit stand, gewartet hatte.
"Du hast mir auch gefehlt, Jo.", schmunzelte ich, während die Umarmung immer fester und ausgiebiger wurde, bis er mich schließlich losließ und mir ein wenig zu überschwänglich und breitgrinsend gegen den Oberarm schlug, den ich mir anschließend rieb und mich bemühte, nicht allzu sehr das Gesicht zu verziehen.

"Schön, wieder hier zu sein, nicht wahr?", grinste Niels, der neben mir stand und mir sanft auf den Rücken klopfte, während sein Blick mit stolzem Ausdruck über die bunten Poster und Auszeichnungen an der Wand glitt.
"Ja, mir hat die frische Luft hier drin und der blumige Frühlingsduft echt gefehlt", witzelte ich und unterdrückte ein Niesen bei dem Staub, der sich in meiner Nase beim Einziehen der stickigen Luft des Proberaums ansammelte.
Doch der Gitarrist hatte Recht; ich hatte es wirklich vermisst, hier mit ihnen zu stehen. In unseren eigenen vier Wänden, unserem Zuhause, mit meinen besten Freunden,
meiner Familie.

Gerade, als die Frage nach ihm auf meiner Zunge lag, erfasste ich schon im Augenwinkel den dunkelblonden Haarschopf, der sich durch die Tür schob und mit seinem strahlenden Lächeln den kleinen Raum erhellte.
"Pünktlich wie eh und je!" - "Solltest dich langsam wieder dran gewöhnen, Strate.", erwiderte Kris, ehe er in die gleiche, starke Umarmung von einem sehr impulsiven Johannes gezogen wurde, wie ich und vermutlich auch Niels zuvor.
Dann kam er auch auf uns zu; "Ihr habt mir echt gefehlt, Leute.", sagte Kris nachdrücklich, während er Niels mit dem linken und mir mit dem rechten Oberarm die Luft abschnürte, was - zumindest mich - nicht weiter störte und selbstverständlich erwidert wurde, um uns anschließend lachend durch die Haare zu wuscheln, als wären wir augenblicklich um 30 Jahre verjüngt.

Natürlich hatten wir uns während der Auszeit von Revolverheld trotzdem gesehen, schließlich waren wir auch außerhalb der Musik und der Arbeit beste Freunde, die man eben nicht so leicht voneinander bekam.
Doch hatten sie alle viel zu tun; insbesondere Jo und Kris, die einzeln aufgenommen und getourt hatten.
Und irgendwie war es etwas anderes, sich mit dem Wissen wiederzusehen, dass die Pause nun vorbei war.
Dass wir ein neues Album aufnehmen würden.
Dass wir wieder das tun würden, was wir am besten konnten und gleichzeitig so unglaublich viel Spaß machte.
Dass wir wieder ein Team waren.
Dass es endlich weiterging.

Auch er drehte sich zur plakatierten Wand, die wir noch immer bestaunt hatten und stemmte die Fäuste in die Taille. Ich nahm ein Seufzen wahr; "Irgendwie ist es nicht dasselbe ohne Flo."
Niels nickte gedankenverloren mit gesenktem Blick und dachte wohl das Gleiche wie ich. Kris hatte Recht, ohne den vorlauten Bassisten fehlte etwas.
"Nun ist aber mal genug mit Trübsal blasen, Leute!", entschied Johannes energisch und stemmte 2 Sixpacks original Hamburger Dosenbier auf den kleinen Stehtisch. "Hallo? Die geilste Band Deutschlands ist jetzt wieder am Start; das muss gefeiert werden!"
Er drückte jedem von uns ein kühles Bier in die Hand, während sein Blick einen fast dazu zwang, ebenso gutgelaunt zu sein, was ich in einer gewissen Hinsicht schon war; schließlich freute ich mich seit Monaten auf das Comeback und darauf, endlich wieder mit diesen Idioten Musik zu machen.

Doch mit einem Mal war alles wieder da.
Alles das, wovon ich mir einredete, dass es verging, wenn ich ihn eine Zeit lang nicht sah.
All das, wogegen ich mich sträubte und doch klar und deutlich empfand.
Alles, was er jedes Mal in mir auslöste, mit diesem schiefen Lächeln, das seine vollen Lippen zierte und dem verbundenen Herzklopfen.
All die Wärme, die er direkt neben mir ausstrahlte, die mich sanft einhüllte und doch unangenehm für sich einnahm.
Alles das, wovon ich mir in all der Zeit nicht klarmachen konnte, ob es nun gut oder schlecht war, war in dem Moment wieder da, als er zur Tür hereinkam mit genau diesem Lächeln, das mich schon längst vollkommen unter Kontrolle hatte.
Gott, dieses Lächeln.

"Jakob?", riss mich Niels mit hochgezogenen Augenbrauen und ebenso hoch gehaltener Dose aus dem tiefen Abgrund des funkelnden Brauns, in dem ich den Moment vergessen hatte.
"Auf uns!", zitierte ich Johannes' verschwommene Worte mit einem verlegenen Grinsen und stürzte die kühle Plörre hinunter, um die aufkommende Röte auf meinen Wangen abzulöschen.

•Du weißt nicht, was du fühlst.•Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt