Kapitel 5 - Gwens Sicht

Start from the beginning
                                    

Die Strecke war etwas länger als der kleine Durchmesser des Sees in Frankreich, doch selbst nach 3/4 des Weges konnte ich noch problemlos meinen Atem- und Schwimmrythmus beibehalten. Das Salzwasser brannte in meinen Augen und auf meinen Lippen. Der mittlerweile ziemlich kühle Wind hingegen, der meinen Rücken beim Schwimmen streifte, erzeugte einen deutschen Kontrast zu diesem Brennen, durch den ich eine leichte Gänsehaut bekam. Langsamer wurde ich deswegen jedoch trotzdem nicht. Erst, als sich der Steg nur noch eine Armlänge von mir entfernt befand, bremste ich mich im Wasser ab, um die Arme in die Luft zu strecken und mich am Steg hochzuziehen. Sehen konnte ich aufgrund meiner noch brennenden Augen nichts. Als ich jedoch, nur eine Sekunde nachdem ich selbst meine Hände an den Stegrand gelegt hatte, eine nasse Hand spürte, die meine streifte, bevor sie sich neben meine Hand an diesen krallte, wusste ich, dass ich gewonnen hatte. Mit einem Siegergrinsen setzte ich mich auf den Steg. Ein Bein ließ ich baumeln, während das andere angewinkelt auf dem Holz stand, sodass ich meinen Kopf auf meinem Knie ablegen konnte. Natürlich immer noch mit einem Grinsen im Gesicht. "Gewonnen." Man hörte mir eine leichte Atemlosigkeit an, doch da die Anstrengung im Vergleich dazu, was ich sonst an Belastung gewohnt war, eher kurz ausfiel, atmete ich nach kurzem schon wieder ziemlich entspannt. Juan jedoch schien ebenfalls ziemlich viel Ausdauer zu besitzen. Es war schließlich unglaublich knapp gewesen. Außer Atem war er auch nicht mehr als ich. Die Freude an meinem Sieg nahm mir das aber nicht. "Jetzt schulde ich dir wohl einen Wunsch." Er strich sich die nassen dunklen Haare zurück. Ich erwiderte nichts, sondern sah ihn nur mit einem schadenfreudigen Grinsen an. Klar, wer freute sich denn nicht, wenn jemand anderes einem etwas schuldete und man sich aussuchen konnte, was man wollte. Doch natürlich war ich keine Ashley - die Schulzicke des Internats, die sich am Leid anderer immer wieder gerne erfreute. Ich würde Juan nichts machen lassen, was ich nicht auch selbst machen würde. Es sollte mir einfach von Nutzen sein. "Und? Was soll ich tun?" Ich musste zugeben, er war ein wirklich guter Verlierer. Weder schmollte noch motzte er rum oder war genervt und schlecht gelaunt. Er wirkte einfach ausgeglichen, vielleicht ein wenig amüsiert sogar. Nachdenklich sah ich auf meine Zehen, doch mir fiel wirklich nichts ein. "Ich denke, ich heb' mir den Wunsch auf." entschied ich. "Pass auf, dass du ihn nicht vergisst." erwiderte er mit einem Schmunzeln und ich schnaubte leise abfällig. "Ich vergesse doch nicht, wenn mir jemand einen Wunsch meiner Wahl schuldet."

Juan zuckte nur mit den Schultern und erwiderte nichts mehr. "Ich denke aber, wir sollten wieder zurück. Schließlich sollen wir uns um 12 für die Stadtführung und den Kirchenbesuch im Hotelfoyer treffen." erinnerte ich uns daran und seufzte, was meine Begeisterung dafür ziemlich deutlich ausdrückte. Von Juan kam ein Nicken. Zusammen ließen wir uns zurück ins Wasser gleiten. Wie die ganze Zeit schon hielten wir einen gewissen Abstand. Eines der Anzeichen die verdeutlichten, dass wir uns mittlerweile lange nicht mehr so nah waren, wie früher. Doch fremd waren wir uns trotzdem nicht. Das merkte ich immer wieder in Situationen, wie vorhin, als ich ihm das Wettschwimmen vorgeschlagen hatte. Situationen, die mich an früher erinnerten. Und auch, dass ich ihn teilweise noch so gut einschätzen konnte, genau wie er mich, zeigte mir, dass ein wenig von früher doch noch da war.

Wir schwammen nicht zurück zu den Felsen, sondern an den Strand. Der Regen hatte mittlerweile aufgehört und am Himmel bahnten sich die Sonnenstrahlen wieder ihren Weg durch die dicken Wolken, die sich bereits wieder verzogen. Als das Wasser wieder flach genug war, damit ich stehen konnte, lief ich neben Juan her durchs Wasser.
Naja, zumindest lief ich neben ihm, ehe ich die Qualle erblickte, die fast unbemerkt direkt neben mir im Wasser trieb. "Fuck!", rief ich aus und flüchtete reflexartig an den einzigen Ort in nächster Nähe, der zurzeit Sicherheit bot - Juans Arme. Ich sprang ihn förmlich an, während ich mich an ihn klammerte und dabei versuchte so wenig Körperteile wie möglich im Wasser zu behalten. Durch Juans schnelle Reaktion klappte es sogar, da er die Arme ebenso reflexartig ausgestreckt und mich aufgefangen hatte. Er stand somit bis zu der Hüfte im Wasser, während ich mich mit den Armen an seinen Hals klammerte und er eine Hand an meinem Rücken und die andere in meinen Kniekehlen liegen hatte. Das mit dem gewissen Abstand hatte sich damit zumindest in diesem Moment erledigt.
Ich fand die Situation wirklich mehr als beschissen. Schließlich gehörte ich eindeutig nicht zu der Art von Mädchen, die abhängig von irgendwelchen männlichen Begleitern waren und sich an diese klammerten. Auch wenn ich gerade genau das tat. Jedoch hatte ich eben nur zwei Optionen. Entweder ich klammerte mich an Juan, der mich so verwirrt ansah, als hätte ich ihm gerade einen Antrag gemacht - passte immerhin zur Haltung, das hieß schließlich Brautstil oder? - oder ich blieb im Wasser, riskierte es mich von der Qualle stechen zu lassen und landete im schlimmsten Fall mit einem anaphylaktischen Schock im Krankenhaus.

Juans Blick sprach Bände, als ich von der Stelle, an der ich die Qualle gesehen hatte, zu ihm sah. Er erwartete eine Erklärung, ließ mich aber immerhin nicht wie einen nassen Sack Reis fallen und das, obwohl ich sicher nicht leicht war. "Ich habe eine Allergie auf Quallenstiche und will meine Zeit in Spanien wirklich nicht im Krankenhaus verbringen." warnend sah ich ihn an. "Wäre also echt toll, wenn du mich an Land bringen könntest, ohne ein blöder Kommentar abzugeben." Nicht, dass ich es zwangsläufig erwartete, doch ich stellte meinen Standpunkt lieber gleich klar. Juan sah an die Stelle, an der sich das fast unsichtbare Tier befand, dass einem auch ohne Allergie darauf furchtbare Schmerzen zufügen konnte. Kaum merklich verzog er das Gesicht, er schien wohl zu wissen, wie sich das anfühlte. Wenn man einen Teil seines Lebens am Meer gelebt hatte, war dies nicht besonders außergewöhnlich.

Ich selbst hatte nicht durch einen Stich von meiner Allergie erfahren, sondern durch einen bescheuerten Klassenclown an meiner alten Schule. Sein Vater war Meeresforscher, wodurch sein toller Sohn eines Tages an eine Ampulle Quallengift kam. Er hatte sich einen Witz daraus gemacht die Mädchen damit zu erschrecken. Ich war in der 5. Klasse und es hatte mich rasend gemacht, wie er sich über uns lustig machte. Was für Schisser wir doch wären. Deshalb hatte ich gesagt, er sollte sich das Zeug doch auf den Arm machen, wenn er so mutig wäre, ich würde es tun. Die Geschichte endete damit, dass wir beide Quallengift am Arm hatten und im Büro des Direktors landeten, wo ich dann zusammenklappte, aufgrund der Schmerzen und der Schwellung.

Dafür dass Juan keinen Mucks zu meiner derzeitigen Lage sagte, war ich ihm dankbar. Er hätte die für mich untypische Lage genauso nutzen können, um sich darüber lustig zu machen, das hätten einige getan.
Erst, als er mich am Strand absetzte, wo ich anschließend sofort wieder auf Abstand ging, indem ich zwei große Schritte zurück trat, ergriff er das Wort. "Das war wohl das erste und letzte Mal, das ich jemanden so märchenhaft herumgetragen habe."
"Und das erste und letzte Mal, dass ich mich habe so 'märchenhaft' herumtragen lasse." Ich hatte mich wie in einem schlechten Film gefühlt. Mit den Armen um seinen Hals, an seine Brust gelehnt. Es hätte nur noch die Tiefe in die Augengestarre und ein Fast-Kuss gefehlt. Urg, furchtbar. Damit meinte ich natürlich nicht die Vorstellung eines Kusses oder eben Fast-Kusses von Juan, darüber konnte und wollte ich mir kein Urteil bilden. Ich meinte einfach die Situation an sich. Ich hasste Klischees, sie waren es, die Menschen so falsch und engstirnig denken ließen. Juans "Dann sind wir uns ja einig", zeigte mir, dass er es so ähnlich zu sehen schien.

Da mir die Situation jetzt im Nachhinein ziemlich unangenehm war, dauerte es einige Sekunden, bis ich wieder den Mund aufmachte. "Ehm... Danke übrigens." Ich war es nicht gewohnt Schwäche zu zeigen, es war seltsam und machte mich verwundbarer, als ich sein wollte. Deshalb verschloss ich mich nun deutlich mehr als vorhin noch, während wir gemeinsam auf den Felsen oder am Steg gesessen hatten.

Do You Believe In Fate?Where stories live. Discover now