Kapitel 2 - Juans Sicht

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Ich hatte nicht die Absicht, sie näher kennenzulernen.

Kaum war ich losgeschwommen, hörte ich ihre Stimme hinter mir: "Woher soll ich das denn wissen? Nur weil die Deutschen hier immer in den Urlaub fahren, können nicht gleich alle Menschen Deutsch!" Genervt aufseufzend schwamm ich weiter, bis ich am Ufer angekommen war. Erst dort drehte ich mich zu der Französin um, deren Herkunftsland man bereits dank ihres Akzents erraten konnte. "Das zwar nicht, aber die Wahrscheinlichkeit hier in Spanien einen deutschsprechenden Touristen zu treffen - egal aus welchem Land er kommt - ist sehr hoch"

Mit diesen Worten ließ ich sie stehen und lief in Richtung der Felsen los, wobei der Sand an meinen nackten, nassen Beinen zu haften begann. Ich hörte hinter mir, wie die Namenslose mir folgte - offenbar wollte sie zu ihren Freunden, die oben bei den Spaniern auf dem Felsen standen und auf sie warteten. Doch wirklich weit kam ich nicht, da mich die Stimme der Brünetten hinter mir aufhielt. „Kennen wir uns?" Langsam blieb ich stehen und drehte mich wieder zu ihr um, wobei ich meine Arme vor meiner nackten Brust verschränkte und ihr dadurch klar machte, dass ich die Distanz zwischen uns beiden brauchte um mich wohlzufühlen. Dem Blick nach zufolge, schien es für sie kein Problem zu sein. Allgemein war ihr Blick - ebenso wie meiner - eher neutral und undefinierbar - einfach schwer zu deuten. „Möglich" war meine zweisilbige Antwort.. Ich nutzte jedoch die Möglichkeit, um sie nach dieser Frage noch besser unter die Lupe zu nehmen. Wenn sie auch das Gefühl hatte, dass wir uns kannten, dann müssten wir uns doch irgendwoher kennen. Aber woher genau?
Mir fiel wieder der Satz ein, der ihr aus dem Mund gefallen war, als wir beide wieder aufgetaucht waren und ich stumm nach einer Erklärung verlangt hatte. 'Sorry, du standest leider echt ungünstig', hatte sie gesagt. Erkenntnis glomm in meinen Augen auf, als ich mich schwach an das Mädchen erinnerte, welches ich vor etwa 5 Jahren kennengelernt hatte.

Die Sonne prallte direkt auf mich hinunter, während ich durch die Nebengassen Frankreichs joggte und somit mein tägliches Training absolvierte. Ich lebte in Frankreich bereits seit einigen Monaten bei meinem Onkel, bis das neue Schuljahr im Internat begann. Dann würde ich nach Deutschland ziehen und dort meinen Abschluss machen. Ich war 13 Jahre alt und hatte bereits die Bestätigung auf meinen Schulantrag erhalten. Das erste Mal in meinem Leben würde ich an dem Unterricht einer öffentlichen Schule teilnehmen.
Für einen Moment war ich abgelenkt von meinen Gedanken an das deutsche Internat, doch dieser Moment, in dem ich unaufmerksam war, reichte aus, um ein junges Mädchen zu übersehen, welches ein Kinderwagen vor sich her schob und direkt auf mich zugerannt kam. Der einzige Grund, warum es zu keiner Kollision kommen konnte, war, dass wir beide noch knapp ausweichen konnten. Sofort hielt ich an und drehte mich um, nur um zu sehen, dass auch das Mädchen, welches etwa in meinem Alter sein musste, stehen geblieben war. „Sorry, du standest leider echt ungünstig" waren ihre ersten Worte, auf die ich jedoch aus Reflex mit einem portugiesischen Fluch antwortete, ehe ich die Brünette näher betrachtete.

Das war unsere erste Begegnung gewesen und nach kurzem Überlegen fiel mir auch der zu dem Mädchen dazugehörige Name wieder ein. „Gwendolyn..." Meine Mundwinkel zuckten leicht, doch ein Lächeln entstand nicht auf meinem Gesicht. „Wo hast du deinen Kinderwagen gelassen?" Ich wusste zwar, dass sie eine Französin war und doch sprach ich weiterhin Deutsch mit ihr. Deutlich sah ich, wie sich auf ihrem Gesicht die Erkenntnis breit machte, bevor sie leicht schmunzelte auf meine rethorische Frage antwortete: „Juan...Den musste ich leider in Frankreich lassen. Aber in Deutschland zuhause steht ein fast unbenutzter Kinderwagen, wenn du einen haben willst." Nun brachten mich ihre Worte zum Schmunzeln, doch meine dunklen Augen blieben genauso neutral wie sie es bereits vor fünf Jahren waren. Nur selten konnte man deutliche Regungen und Emotionen in ihnen erkennen. „Nein, danke für das Angebot." Obwohl Gwen früher meine beste Freundin gewesen war, konnte ich mich jetzt nicht so recht in ihrer Gegenwart entspannen. Viel eher blieb ich in meiner misstrauischen, abweisenden Haltung stehen und zog meine Augenbrauen leicht zusammen. „Du bist genauso stürmisch wie schon vor fünf Jahren. Aber dass du mich gleich von der Klippe fegen musstest...das hättest du dir wirklich sparen können"

„Tja, vielleicht wollte mich ja das Schicksal unbedingt darauf hinweisen, dass ein alter Freund vor mir steht" Der vor Ironie tropfende Satz ließ mich ein wenig entspannter wirken. Ich wusste noch zu gut, dass sie nicht an Schicksal glaubte. Wir hatten uns zwar seit einigen Jahren nicht mehr gesehen, da der Kontakt nach meinem Umzug nach Deutschland langsam aber sicher abgebrochen war, aber dennoch konnte ich mich noch an vieles erinnern, was ich über sie wissen sollte. „Sarkasmus war schon früher deine Stärke gewesen" stellte ich mit einem leichten Schmunzeln fest, während ich dabei auf die Tatsache hinwies, dass sie nicht an das Schicksal glaubte. Es sei denn, es hatte sich in den letzten Jahren geändert, was ich jedoch bezweifelte. Als Antwort jedoch wurde mir nur ein provozierendes Grinsen geschenkt, gefolgt von einem Satz, mit dem ich nicht gerechnet hatte: „Übrigens echt mies, eine 12-Jährige nicht zurückzurufen, wenn sie einen zu erreichen versucht" Gwen hob während dieser Feststellung eine ihrer Augenbrauen, wobei es jedoch nicht so wirkte, als würde sie mich dabei anklagen. „Übrigens echt mies, wenn der Erzeuger seinen eigenen Sohn durch Portugal, Frankreich und Deutschland hetzt und ihn versucht über Kommunikationsgeräte zu orten" konterte ich und beschrieb dadurch meine Lage vor ein paar Jahren, spannte mich aber sofort wieder an, als ich hinter mir eine Stimme vernahm, die Gwens Namen rief. „Du wirst gerufen" stellte ich mit einem raschen Blick über die Schulter fest. Es waren Mary, die sich scheinbar um Gwen gesorgt hatte, da diese nach dem Sturz nicht mehr aufgetaucht war, und Jack, welchen ich hin und wieder mal im Internat gesehen hatte.

Aufgrund meiner dezenten Menschenallergie, die zwar medizinisch nicht nachgewiesen aber trotzdem vorhanden war, hatte ich nicht vor, mich noch länger mit Gwen zu unterhalten, da die Möglichkeit bestand, dass noch mehr Schüler dazustießen. „Wir sehen uns", murmelte ich mit einem kurzen Blick auf die schüchterne Schülerin, die sich nicht zu trauen schien, sich uns zunähern. Ein leichtes Lächeln huschte für den Bruchteil einer Sekunde über mein Gesicht, als ich mich wieder Gwen zuwandte und schlussendlich davonjoggte. Weg von Gwen, meiner alten Freundin, die ich aufgrund des fehlenden Kontaktes aus den Augen verloren hatte.

Do You Believe In Fate?Where stories live. Discover now