Prolog

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10.03.2018

Findest du nicht, dass es langsam mal an der Zeit ist zu reden, Lane?", fragt meine Therapeutin mit dem einfühlsamsten Unterton, den sie auf Lager hat. Mit dem Spruch kommt sie bei mir ständig um die Ecke. Aber das zieht nicht. Da kann sie noch so mühsam rumbetteln wie sie will. Rum – Alkohol könnte ich jetzt echt gut gebrauchen!

„Du bist nun schon seit Wochen regelmäßig hier und hast noch keinen einzigen Ton gesagt", fährt sie mit ihrer Masche fort. Jedes Mal leiert sie denselben Mist runter, den sie in ihrem Studium wahrscheinlich auswendig gelernt hat. Ohne Erfolg. Gibt sie irgendwann auch mal auf und sieht ein, dass ich nicht reden werde?

„Wenn du nicht mit mir sprichst, kann ich dir auch nicht helfen, Lane!" Sehe ich so aus, als ob ich ihre Hilfe will? Nein. Und das hat auch einen Grund. Ich habe keine Lust, mit irgendjemandem zu sprechen. Ich werde nicht reden. Nicht heute, nicht morgen, nie mehr. Ist das denn wirklich so schwer zu verstehen?

Meine Therapeutin seufzt und fährt sich durch die ergrauten Haare. Hoffentlich ist sie bald mit ihrer Geduld am Ende, steckt meine Akte in die leider-keine-Gehirnwäsche-geglückt-Schublade und lässt mich endlich in Ruhe.

„Ich habe gehört, dass du gerne schreibst. Stimmt das?" Ich wollte Autor werden. Damals, als ich noch Träume hatte.

„Deinem Schweigen entnehme ich, dass ich Recht habe. Wenn du schon nicht mit mir reden möchtest, dann schreib wenigstens, Lane."

Es nervt mich, dass sie am Ende eines Satzes ständig meinen Namen sagt. In ihrem Munde hört er sich echt scheiße an.

„Ich habe etwas für dich", sagt sie, steht von ihrem Drehstuhl auf, verschwindet für einen kurzen Moment aus dem Raum und kommt im Anschluss mit einem großen Karton zurück. Er sieht so aus, als hätte er schon Einiges mitmachen müssen. An vielen Stellen prangen lange Risse und an einigen Ecken fehlt sogar etwas Pappe.

Sieht schwer aus. Ich helfe ihr bestimmt nicht.

Mit einem lauten Knall lässt sie den Karton vor mir auf dem Schreibtisch nieder und versucht vergeblich, den Inhalt ans Tageslicht zu befördern.

Ich sehe ihr regungslos und gelangweilt dabei zu, wie sie kläglich versagt. Na ja, wenn ich rot lackierte, drei Zentimeter lange Fingernägel hätte, würde ich wahrscheinlich auch versagen.

Es dauert einige Minuten, bis sich endlich etwas tut. Meine Therapeutin stemmt mit ihrer gesamten Kraft eine Schreibmaschine hoch und lässt diese anschließend unsanft vor mir nieder. Wie originell.

„Ich will, dass du aufschreibst, was passiert ist", ordnet sie an. Sie scheint von ihrer Idee vollkommen fasziniert zu sein. Aber es gibt nichts, was ich aufschreiben könnte. Es ist alles gesagt, was gesagt werden muss und man kann das, was geschehen ist nicht mehr ändern.

Als sie meine unmotivierte Haltung und mein enormes Desinteresse wahrnimmt, baut sie sich vor mir auf.

„Versuch es doch wenigstens. Das kann nicht schaden! Es wird auch niemand deine Texte lesen, das verspreche ich dir, Lane."

Da ich jemand bin, der nichts von Versprechen hält und weiß, dass sie heutzutage sehr leicht gebrochen werden, überzeugen mich ihre Worte nicht.

„Es kann Wunder bewirken, sich einfach mal alles von der Seele zu schreiben."

Sie gibt wirklich nie auf, oder?

„Komm schon, ich sehe doch, dass deine Finger bereits kribbeln."

Eigentlich nicht.

„Wenn du willst, lasse ich dich alleine."

Ich will nicht, dass sie mich alleine lässt, ich will, dass sie mich in Ruhe lässt!

Genervt werfe ich einen Blick auf die Uhr und erkenne zu meiner großen Erleichterung, dass die Sitzung bereits seit fünf Minuten vorbei ist. Sofort springe ich auf, ziehe mir meine Jacke an und will mich eilig aus dem Staub machen, doch meine Therapeutin legt ihre knochige Hand auf meine Schulter und sagt: „Nimm sie mit."

Ich schubse ihre kalten Finger grob von mir, seufze und nähere mich dem altmodischen Teil. Die Tasten sind verstaubt und es scheint so, als hätte dieses Ding ewig niemand mehr benutzt. Es sieht eigentlich ganz cool aus.

Also schön. Bevor ich hier noch länger als nötig rumhängen muss, nehme ich sie lieber mit.

Ich ignoriere meine nervige Therapeutin, schnappe mir die staubige Schreibmaschine und sehe zu, dass ich aus diesem ätzenden Büro komme.

Wieso Ich Schweige [Leseprobe]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt