Nachtflug

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Irgendwo hoch oben in der Luft, umgeben von nichts als Schwärze und dunklen Ahnungen, floss Kraft zurück in Mariekas schlaffen Körper.

Sie begann, sich zu wehren. Erst waren es nur ihre Füße, die sie bewegte, doch irgendwann konnte sie auch wieder ihre Arme bewegen, in dem verzweifelten Versuch, sie aus der festen Umklammerung um ihre Schultern zu lösen.

Erst als es ihr gelang, so heftig zu zappeln, dass sie einige Zentimeter nach unten sanken, wurde ihr klar, wie dumm der Versuch war, sich zu befreien. Denn unter ihr war nichts als weite, leere Luft. In der Dunkelheit konnte sie nicht sagen, wie weit die Erde entfernt war, aber mit der Kraft und Schnelligkeit, in der Wind gegen ihren Körper drückte, konnten sie wohl kaum direkt über dem Boden fliegen.

Mariekas Körper wurde steif, als sie sich ausmalte, wie die Felder unter ihr nur noch kleine Flecken waren. Vor langer Zeit einmal hatte sie ihren Vater auf eine seiner Reisen in die Stadt begleitet und unterwegs waren sie über einen Berg gestiegen, höher als jeder der Hügel, die sich in Blickweite ihres kleinen Dorfes fanden.

Ganz oben stand ein alter, verlassener Turm und ihr Vater hatte sie mit hochgenommen und ihr gezeigt, wie weit nach unten man sehen konnte, auch wenn sie sich ängstlich an sein Wams geklammert hatte und nur mit einem Auge hingeschaut hatte.

Ihr war damals schon übel von dem Anblick. Wenn jetzt nicht dichte Wolken die Sterne verdecken würden, wäre ihr wohl längst das Bewusstsein geschwunden, so hoch über dem Erdboden, ganz ohne das Gestein des Turmes und den massiven Berg unter ihren Füßen.

Wenigstens peitschte der Wind so hart in ihr Gesicht, dass sie sich nur noch auf ihren eigenen Atem konzentrieren konnte und ihre Gedanken nicht weiter zu derartig ungeheuerlichen Anblicken abschweiften.

Das Rauschen des Windes unterteilte sich mit den Schlägen von riesigen Lederschwingen um sie herum und ganz allmählich gewöhnten sich ihre Augen genug an die Dunkelheit, dass sie undeutliche Schemen um sich herum in der Luft wahrnehmen konnte.

Dann folgten die Schreie.

Marieka war sich nicht sicher, ob sie erst jetzt zu schreien begannen, oder ob sie es bisher nur nicht begriffen hatte in ihrer Starre. Doch die Schreie drangen in sie ein wie spitze Nadeln, aber anstatt dass Blut aus diesen Löchern herausfloss war es die Angst, die ihre Adern von außen auffüllte wie Blei.

Wenn es doch nur echtes Blei wäre, so schwer, dass der Vampir sie nicht mehr tragen konnte und sie nach unten sanken, bevor es zu spät war! Bevor er sie zu seinem Nest tragen würde und über sie herfallen wie ein ausgehungerter wilder Wolf, ihr erst jeden Knochen zerschmettern und dann die Seele aus dem Leib saugen ...

Ihr Schrei stach mit den anderen in die Luft bis sie den Vampir über sich böse zischen hörte, so eindringlich und bedrohlich, dass es ihr schließlich im Hals stecken blieb und sie stattdessen anfing zu husten und zu würgen. Ihr Körper schüttelte sich dabei, bis sie Angst hatte, dass der Vampir sie fallen lassen würde.

So sehr sie ihre nächste Landung fürchtete, so wenig wollte sie doch aus dem Himmel fallen. Aber hätte sie sich nicht den Tod wünschen sollen, zerschmettert am Boden, aber frei von den Versuchungen der Hölle, die sie erwarteten?

Sie biss sich auf die Lippen und presste die Augen fest zusammen, bis in der vollkommenen Dunkelheit silberne Sterne tanzten. Ihr gelang es genauso wenig diesen Gedanken zu vollenden, wie alle anderen davor, als würde er mit dem schneidenden Wind fortgewischt und aus ihrem Kopf gelöscht.

Nur die Angst, die stechende, ewige Angst, die blieb.

Marieka konnte nicht sagen, wie lange ihr höllischer Flug dauerte. Sie war nie eine Freundin der Dunkelheit gewesen und es gehörte nicht zu ihren Talenten, das Verstreichen der Zeit anzusagen, wenn nicht einmal der blasse Schimmer der Dämmerung ihr dabei half. Ihr Vater dagegen war so gut darin, dass es nahezu unheimlich war – ein reisender Astronom hatte ihm den Lauf der Sterne erklärt und seitdem reichte ihm ein kurzer Blick auf den Stand des Mondes oder des Nordsterns, um nicht nur die Himmelsrichtungen, sondern auch den genauen Fortschritt der Nacht zu benennen. Er hatte versucht, Marieka darin zu unterrichten, wie in so vielem. Wie in so vielem war nicht viel davon hängen geblieben. Sie war nicht intelligent wie ihr Vater, ihr entfiel Wissen, sobald sich ihr dessen Sinn nicht ganz erschloss.

Ihr Vater hatte gelächelt, wenn er sie nach den Sternen fragte und ihr die Wörter nur stockend über die Zunge stolperten. „Vielleicht ist es besser so", sagte er dazu, „Denn einen Gelehrten werden sie aus dir noch viel weniger machen als aus mir." Seine Augen waren dunkel vor Müdigkeit dabei.

Marieka hatte so schreckliche Angst davor, dass sie ihn nie wiedersehen würde.

Für ein paar kurze, wunderschöne Momente war der Gedanke an ihren Vater die einzige Sorge in ihrem Kopf und verdrängte die Angst und das Grauen. Dann setzte der Vampir zum Sturzflug an.

Sie spürte die kalte Luft nicht mehr nur von vorne auf sie zuschießen, sondern auch von unten und ihr Körper zuckte zusammen, wie die Male, die sie eine Stufe auf der Leiter verpasste und fiel.

Um sie herum drangen die Schreie spitzer als zuvor in ihre Ohren und auch Marieka schrie, weil es nicht viel anderes gab, was sie tun konnte. Es war vorbei. Die Vampire würden sie auf dem gefrorenen Grund zerschellen lassen und sich dann an ihren Überresten gütlich tun, fernab jeder Kirche oder geweihten Erde, als dass ihre Seele je Frieden würde finden können.

Der Wind drang mit solcher Macht in ihre Lungen, dass ihr der Schrei im Hals stecken blieb und dann waren die Klauen in ihren Schultern fort und sie fiel tatsächlich.

Es dauerte nicht lange. Sie vermeinte, ein lautes Knacksen wie von trockenen Ästen zu hören, als sie auf hartem Stein aufkam, aber der Flug hatte sie so betäubt, dass sie nichts außer den dumpfen Wellen des Aufpralls in ihrem Körper spürte.

Um sie herum hörte sie, wie andere aufkamen, Schreie abrupt erstickten oder in frischen Schmerzen neu aufjaulten. Über ihnen rauschten die Flügel der Vampire gegen den Wind und jemand wimmerte neben Marieka.

Für einen kurzen Moment riss die Wolkendecke über ihnen auf.

Sie sah die Umrisse der Vampire wie riesige, tödliche Krähen gegen den silbernen Glanz der Sterne, wie sie einer nach dem anderen nach unten schossen – Marieka rappelte sich auf und hastete vorwärts. Wie weit oben waren sie noch, dass die Vampire unter sie hinweg tauchen konnten? Wo waren sie?

Ihr Weg wurde schnell unterbrochen und gab ihr die Antwort: steinerne Zinnen hielten sie davon ab, weiter nach vorne zu gelangen und als sie über sie hinweg spähte, konnte sie in der aufgehellten Nacht die Umrisse von Mauern und Türmen entdecken. Türmen wie der, auf dem die Vampire sie abgesetzt hatten.

Marieka verstand nicht.

Die Wolken zogen zu und mit dem Sternenlicht verschwand nicht nur der Großteil ihrer Sicht, sondern auch der letzte sachliche Gedanke an ihre Lage. Die Betäubung wich aus ihrem Körper und wurde durch den Schmerz ersetzt – in ihren Knien vom Aufprall auf den Steinen, in ihren Waden von der Flucht, in ihren Schultern von den Klauen des Vampirs.

Mit dem Verschwinden der Kreaturen aus dem Himmel über ihnen wurde es still. Sie hörte wieder Wimmern, aber es war mehr als eine Person. Jemand flüsterte zu sich selbst, hektisch und so leise, dass sie kein Wort verstehen konnte.

„Gibt es eine Tür?", fragte jemand verzweifelt, „Es muss doch eine Tür nach unten geben!"

Es raschelte, begleitet von rhythmischen Klopfen auf dem Stein und dann irgendwann Holz.

„Sie ist verschlossen", sagte ein anderer, die Stimme hoch vor Unglaube und Angst. Er wiederholte den Satz immer und immer wieder, bis er nur noch schluchzte.

Marieka war taub vom Schmerz und der Kälte und nichts wollte so wirklich zu ihr dringen. Die Vampire hatten sie auf einem Turm ausgesetzt, ohne Möglichkeit, ihn zu verlassen. Sie waren allein in einer dunklen, kalten Wolkennacht. Und sie würde ihren Vater nie wieder sehen.

Als der feine Nieselregen einsetzte und ihre Haut traf wie tausend kalte Küsse des Todes, kauerte sie sich an die Turmzinnen, schlang die Arme um ihren Oberkörper und betete, dass all der Schrecken mit der nächsten Sonne sein Ende finden würde.

Ihre leisen Tränen waren das einzige, was sich im Eisregen warm anfühlte. 

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