➰ 9. KAPITEL ➰

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Unwissenheit ist die Nacht des Geistes,

eine Nacht ohne Mond und Sterne.

(Konfuzius)

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„Ich bin Solé"

Die alte Frau steht neben dem Kamin auf und humpelt auf mich zu. Beim gehen verzieht sie leicht ihr Gesicht. Sie muss starke Schmerzen haben.

Mit leicht gebeugter Haltung kommt sie vor mir zum Stehen und schaut mir von unten aus ins Gesicht. Eigentlich müsste sie, wenn sie geradestehen würde, genauso groß sein wie ich. Ihr Alter muss sie eingeholt haben.

„Ebony", antworte ich ihr und sie reicht mir ihre faltige Hand, die ich ohne Weiteres ergreife und schüttle. Ein nettes Lächeln bekomme ich von ihr und sie streicht sich fast ein wenig rührselig über ihren grauen Rock.

Mein Blick huscht zu den anderen, die uns neugierig beobachten und besonders der schmierige Mann hat seine Interesse an dem gerade laufenden Poker Spiel verloren. Mir wird von dem stickigen Raum und den vielen Menschen richtig schlecht. Es dreht sich ein wenig und Solé scheint die Einzige zu sein, welche es mitbekommt und mich leicht am Arm festhält.

„Alles gut?", fragt sie mit einem Hauch von Besorgnis in der Stimme, „Kindchen du siehst nicht gut aus"

Ich kann bloß mit meinen Kopf schütteln und schon dirigiert sie mich aus dem Raum raus in den kühlen Flur, gleich weiter in ein Nebenzimmer. Die Tür macht Solé hinter sich zu und schließt auch ab.

Sie humpelt rüber zu einem alten Waschbecken und lässt Wasser in ein kaltes Glas fließen. Währenddessen schaue ich mich im Raum um. Es sieht beinahe aus wie ein Krankenzimmer, es liegen Medikamentschachteln, Binden, Spritzen und jede Menge anderes Zeugs auf einer Kommode. Ein Bett steht in der Ecke des Zimmers, eine gestrickte Tagesdecke liegt darüber und ich muss mir ein kleines Kichern verkneifen. Typisch Oma! Doch dann schießt mein Kopf zu Solé zurück, die mit dem vollem Glas Wasser auf mich zu kommt und mir es überreicht.

Ich kann mir einfach nicht vorstellen, wie so eine Frau ins Gefängnis kommen kann. Genau wie Ylvie scheint sie mir hier fehl am Platz! Nachdem ich das Glas leergetrunken habe, fahre ich mir mit der Zunge über den Mundwinkel um die letzten Tropfen wegzubekommen.

„Seit wann bist du hier?", fragt sie mich und setzt sich auf einen Stuhl. Ihr Auge schaut mich wachsam an.

„Das weiß ich nicht genau, vielleicht einen Tag?", antworte ich. Ich kann es nicht genau wissen. Ich weiß ja auch nicht, wie lange ich bewusstlos gewesen bin.

„Du brauchst neue Kleidung"

„Wieso?"

„Du siehst aus wie eine Neue. Eine von den anderen" Sie steht mit einem ächzenden Keuchen und der linken Hand am Rücken auf und schlürft zu dem großen Kleiderschrank. Ich stelle mir schon vor, wie sie mir jetzt einen selbst gestrickten Poncho entgegenhält, aber sie holt eine verwaschene Jeans und ein schlichtes graues T-Shirt hervor. Beides packt sie mir aufs Bett und geht Richtung Tür.

„Zieh dich um mein Liebes, ich warte draußen vor der Tür" Ohne sich nochmal umzudrehen schließt sie auf, öffnet die Tür und tritt hinaus.

Ich seufze kurz auf und beginne mich umzuziehen. Komischerweise passt mir beides wie angegossen und ich schaue nochmal beim hinausgehen flüchtig in den Spiegel an der Wand und betrachte mich musternd. Mein blondes Haar hängt mir zottig über die Schultern. Mit meinen tiefen Augenringen und den aufgesprungenen Lippen schaue ich echt wie eine Verbrecherin aus. Ich bin wahrscheinlich erst für einen Tag hier, doch es fühlt sich schon an wie Monate. Und mir ist klar, das die Tage noch viel härter und länger werden.

Prisoner | h.s.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt