»Tut mir leid, Emma, ich muss schnell was erledigen«, würgte ich sie ab. Ich musste den Block sehen. Sofort. »Kann ich dich später zurückrufen?«

»Sorry, Tapolina, später ist schlecht. Ich treffe mich mit Freunden. Wir wollen feiern gehen.«

»Oh, dann . . .« Ich zögerte. »Nicht so wichtig. Das kann warten. Wir haben schon so lange nicht mehr miteinander gesprochen. Lass uns jetzt noch ein Weilchen telefonieren!«

»Nein, passt schon, wirklich. Um ehrlich zu sein, war ich eh froh, dass du auflegen wolltest. Ich bin nämlich schon spät dran und . . .«

»Schon gut«, sagte ich schnell, weil ich ihr eine Ausrede ersparen wollte. Immerhin war ich es gewesen, die das Gespräch unterbrechen wollte. Ich fühlte mich schuldig. »Hören wir uns die Tage?«

»Bestimmt«, versprach Emma. »Pass auf dich auf, Baby.«

»Warte, Em! Ich vermisse di. . .«

Emma hatte aufgelegt.

Zaghaft atmete ich ein und fühlte, wie sich Traurigkeit in mir breitmachte. Doch bevor sie mich übermannen konnte, erinnerte ich mich, weshalb ich hatte auflegen wollen. Als stünde ich unter Strom, sprang ich aus der Wanne und trocknetet mich ab. Mit triefend nassen Haaren wickelte ich mich in ein Handtuch, spurtete in mein Zimmer und hinterließ eine nach Rosenduschgel duftende Spur im Flur. Sofort riss ich meinen Rucksack auf und holte den Block heraus. Ich hatte ihn schon ganz vergessen!

Erst haderte ich mit mir, weil ich Jakobs Privatsphäre nicht verletzen wollte. Nach ein paar Sekunden des inneren Kampfes übermannte mich schließlich die Neugier. Schnurstracks schlug ich das Deckblatt auf, und meine Augen weiteten sich.

Das erste Bild zeigte eine junge Frau, die sich die Hände übers Gesicht hielt und sich schmerzverzerrt krümmte. Es war ungenau, fast schlampig schattiert, aber es sah so echt aus. Ihre Verzweiflung stach einem entgegen. Als ich umblätterte, war da eine Kinderhand, die einen riesigen Apfel hielt, von dem sieben Mal abgebissen worden war. Die fehlenden Stücke sahen aus wie unsere Kontinente. Nordamerika und Asien waren schon etwas braun.

Bild für Bild blätterte ich weiter. Ich liebte seinen Stil, die groben schwarzen Linien, die feinen Schatten. Seine Zeichnungen strahlten eine gewisse Aura aus, von der ich - so schien mir - nicht viel verstand. Manche seiner Bilder waren düster und unheimlich, andere strotzten vor Energie und wieder andere waren sehr . . . traurig.

Ich sah mir unzählige Zeichnungen an, berührte vorsichtig das körnige Papier und fuhr mit dem Daumen die Kanten entlang, um weiterzublättern. Als ich zum letzten Bild kam, zuckte unwillkürlich meine Hand zurück. Von einem Moment auf den anderen stand ich völlig neben der Spur. Ich starrte in zwei große Augen, die gedankenverloren ins Nirgendwo blickten. Ich sah ein Mädchen, das den Kopf auf eine Hand gestützt hatte und mit den Seiten ihres Buches spielte. Wallende Locken umrahmten ihr zierliches Gesicht, bauschten sich auf ihren Schultern und fielen ihr in großen Kringeln über den Rücken. Sie hatte die Lider weit geöffnet und die Unterlippe zwischen den Zähnen eingefangen, knabberte sanft darauf herum und wirkte dabei so zerstreut, dass man meinen könnte, sie befände sich in einem völlig anderen Universum.

Etwas durcheinander betrachtete ich die Skizze. Ich war mir ganz sicher, dass ich so nicht aussah, dass ich lange nicht so schön war, wie die Frau, die Jakob gezeichnet hatte. Und doch erkannte ich mich in ihr wieder.

Ich fühlte, wie sich eine seltsame Wärme in meiner Brust breitmachte, wie diese Wärme in meinen Bauch ausstrahlte und sich dort in einen flatternden Schmetterling verwandelte. Mit jedem Flügelschlag steig die Hitze in mir an, verschluckte mich regelrecht und zauberte mir ein so gigantisches Lächeln ins Gesicht, dass meine Wangen davon schmerzten.

Ich war nichts Besonderes. Nichts, was man zeichnete.

Meine Fingerspitzen begannen zu kribbeln, während ich immer noch das Bild anstarrte. Ganz so, als könnte es mir verraten, warum er es doch getan hatte.

Warum er mich gezeichnet hatte.





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Hallo, liebe Leserinnen und Leser!

Ihr habt gerade ein Kapitel gelesen, in dem Cherie selbst im Mittelpunkt steht - mit ihren Gedanken, ihren Erinnerungen, ihren Freundschaften. Wenig Action, viel Philosophie . . .

Konntet ihr dem was abgewinnen?

Denkt ihr selbst manchmal über den Sinn des Lebens nach?

Danke fürs Lesen und lasst mir gerne ein Vote und ein paar Kommentare da! <3

Alles Liebe

Eure Mila

Gemalter HerzschlagWo Geschichten leben. Entdecke jetzt