Prolog

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Es klopfte an der Türe. Automatisch verkrampfte ich mich. „Zayn?", war die vorsichtige Stimme meiner Mutter zu hören, „Das Essen ist fertig, bitte komm runter." Ich legte 'Harry Potter' zur Seite und ging hinunter in die Küche. Meine Mutter und meine drei Schwestern sassen um den Küchentisch und schweigend setzte ich mich dazu. Ma stellte eine Pfanne mit Suppe auf den Tisch und ich begann schweigend zu essen. Am Gespräch nahm ich nicht teil. Es war schon genug schwer, bei ihnen zu sitzen. War das nicht krank? Mir fiel es schwer, mit meiner eigenen Familie an einem Tisch zu sitzen. Ich war schon immer recht zurückgezogen, doch vor ungefähr zwei Jahren hatte es sich zu steigern begonnen. Damals war ich noch zur Schule gegangen und das letzte Semester war der reinste Horror gewesen. Immer wenn jemand mich berührt hatte, hatte ich Panik bekommen, und meine Mündlichnoten...darüber wollten wir gar nicht sprechen. Meine Mutter hatte das natürlich sehr beunruhigt, doch sie hatte es als vorübergehende Phase eingeschätzt und mir gesagt, ich sollte ein Jahr nichts tun. Sie würde schon für mich sorgen, ich sollte mich wieder normalisieren. Es hatte nicht geklappt. Eineinhalb Jahre später war ich immernoch so. Nachdem ich fertig gegessen hatte, ging ich wortlos in mein Zimmer. Mir fiel auf, dass ich 'Harry Potter' schon wieder fast fertig gelesen hatte. Ich sollte wieder einmal in die Bibliothek, denn alle Bücher, die sich in meinem Zimmer befanden, konnte ich bereits auswendig. Das war es, was ich die ganze Zeit getan hatte. Ich hatte gelesen. Ab und zu war ich auch in die Bibliothek, doch nicht mehr. Ich glaubte, in Japan nannte man das, was ich war, Hikkikomori. Jemand, der sich im Haus seiner Eltern einschloss und den Kontakt zur Aussenwelt fast vollständig abbrach. Es war ein Wunder, dass ich überhaupt noch mit meiner Familie ass. Schnell schnappte ich mir die Bücher, die ich zurückbringen wollte und meine Bibliothekskarte, dann ging ich nach unten. „Ich gehe in die Bibliothek", informierte ich meine Mutter mit leiser Stimme, doch sie hörte es trotzdem: „Ist gut, pass auf dich auf." Kling kindisch. Naja, irgendwie bin ich ja auch ein Kind. Ohne meine Mutter wäre ich längst verhungert. Zu Fuss ging ich zur Bibliothek. Selbst in Bradford, das ja nicht so gross war, waren mir im Bus zu viele Leute. In der Bibliothek waren zum Glück nicht so viele und da sie recht gross war, waren die wenigen Anwesenden gut verteilt. Die Angestellte am Rückgabeschalter kannte mich: „Hallo Zayn." Sie erwartete keine Antwort. „Ist gut", sagte sie, als sie meine Bücher über den Scanner gehalten hatte. Das schätzte ich an ihr. Sie redete nicht zu viel und respektierte es, dass ich nichts sagte. Da sie wusste, dass ich von Berührungen Panik bekam, wartete sie immer bis ich die Bücher auf dem Tisch abgelegt hatte. Erst dann griff sie danach. Ohne grosse Umschweife ging ich in die Roman-Abteilung und fuhr mit dem Finger den Regalen entlang. Ich kannte viele und von noch mehr hätte ich sagen können, wo exakt sie standen, doch ich fand immer mehrere Bücher, die mich interessierten und die ich noch nicht gelesen hatte. Doch diesmal fand ich leider nur eines. Die Bücher konnten elektronisch ausgeliehen werden, weshalb ich mich nicht mit Menschen in Kontakt begeben musste.

Wieder zuhause rief meine Mutter aus dem Wohnzimmer: „Zayn? Bist du wieder da?" „Ja", antwortete ich leise. Sie erschien in der Türe: „Ich wollte mit dir sprechen." Ich verkrampfte mich merklich. Langsam streckte sie eine Hand nach mir aus, doch ich wich ihr aus. Ich wusste, dass es sie verletzte, doch ich hatte einfach Panik davor, berührt zu werden. Sogar, wenn es meine eigene Mutter war. Sie lächelte gequält: „Das meine ich. Ich möchte dir helfen, doch du lässt mich nicht, ich weiss nicht mehr weiter." Ich senkte den Blick und flüstere: „Es tut mir leid." Sie begann zu schluchzen: „Ich weiss einfach nicht mehr weiter. Ich kann dir nicht helfen, aber ich will, dass dir geholfen wird. Du brauchst professionelle Hilfe und die kann ich dir nicht geben. Darum habe ich beschlossen, dich jemand anderem anzuvertrauen, der dir helfen kann." Mein Blick schoss nach oben. Wollte sie etwa...? Nein. Nein, nein, nein, nein, nein, ich wollte das nicht, konnte das nicht.

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