Kapitel 1 ✔

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„Aylin, schau mal dort! Der schiefe Turm von Pisa ist jetzt ganz nah!", rief meine Mutter freudig und weckte mich somit aus meinem Nickerchen. Ich sah auf und wirklich, die allseits bekannte Sehenswürdigkeit hob sich nur wenige hundert Meter entfernt von der Landschaft ab. Ich streckte mich kurz und lächelte meine Eltern an, die mich durch den Rückspiegel musterten. Langsam kam ein freudiges Kribbeln in meinem Bauch auf, wenn ich an den bevorstehenden Italien Ausflug dachte. Es war das Ende der Sommerferien und meine Eltern hatten mir diese dreitägige Reise zum Geburtstag geschenkt.

„Du bist also doch gespannt, richtig?", fragte mein Vater grinsend und ich zuckte mit den Schultern. Anfangs hatte ich den Sinn der Reise nicht verstanden, doch allmählich wurde klar, dass meine Eltern mir unsere Herkunft näher bringen wollten. Es sollte mir recht sein, denn es hieß innerhalb dieser sechs Wochen immerhin einmal dem Dorf zu entfliehen. Ich dachte an Liz zurück, die mich bei der Abfahrt neidisch verabschiedet und gewunken hatte, bis das Auto um die nächste Kurve verschwunden war. Leider hatten wir sie nicht mitnehmen können.

„Wir reden mit dir", meinte meine Mutter und zwickte mir in das linke Knie, sodass ich mich erschrocken an meinem Kaugummi verschluckte. Hustend beugte ich mich nach vorne, während man mir den Rücken klopfte und die Wasserflasche nach hinten reichte. Hektisch nahm ich ein paar Schlucke und beruhigte mich wieder. Mein Vater drehte sich lachend zu mir um und schüttelte den Kopf. „Das ist typisch, dabei sage ich es dir jedes Mal. Diese Dinger sind tödlich!", ermahnte er mich, auch, wenn ich den Funken Ironie sehr gut erkennen konnte, der in seiner Stimme mitschwang. Mein Blick wanderte von seinem Gesicht zur Straße. Ich riss die Augen auf und schnappte panisch nach Luft.

„Papa, schau auf die Straße!", schrie ich und wies vor uns auf das Auto, das verdammt schnell und vor allem auf der falschen Straßenseite fuhr. Er packte das Lenkrad mit beiden Händen und versuchte dem Auto direkt vor uns mit dem Herumreißen des Steuers nach rechts auszuweichen. Doch es war zu spät, mit einem hässlichen Knirschen und einem dunklen Krach fuhr uns das Auto in voller Fahrt auf. Die letzte Sekunde, die ich bei Bewusstsein war, bevor ich mit dem Kopf gegen den Vordersitz prallte, nutzte ich, um dem Geisterfahrer in das ausdruckslose Gesicht zu schauen.

Er hatte geschlafen.

Ein stechender Schmerz holte mich zurück in die Gegenwart. Mit geschlossenen Augen tastete ich meinen Kopf ab, der stark brummte und immer wieder dumpfe Schmerzsignale zu meinem Gehirn sendete. Etwas lief meine Stirn runter. Während ich langsam meine Augen öffnete, führte ich die Hand in mein Sichtfeld und begutachtete sie. Auch mit verschwommenem Blick konnte ich gut erkennen, dass dunkelrotes Blut an den Fingerspitzen klebte, das zäh auf meine nackten Beine tropfte. Meine kurze Jeans wies ebenfalls ein paar rote Flecken auf, doch ich schenkte dem weiter keine Beachtung.

„Mama, Papa?", fragte ich mit kratziger Stimme und richtete mich langsam auf. Es dauerte einige Zeit bis ich realisierte, dass es bereits dämmerte und eine unheimliche Stille über der Straße lag. Das Auto hatte sich aufgrund des Aufpralls gedreht und lag jetzt auf seiner linken Hälfte, weswegen ich automatisch abrutschte, als ich mich mühselig abschnallte. Ich beugte mich nach vorne zu meinen Eltern und zog mich über die Mittelkonsole, um mir einen Überblick über den Ernst der Lage zu verschaffen. Keiner der beiden war bei Bewusstsein, doch ich stellte erleichtert fest, dass sie stark und regelmäßig atmeten. Ich rüttelte meinen Vater leicht an der rechten Schulter. Der Airbag am Lenkrad war aufgegangen und hatte ihn so vor schrecklichem bewahrt.

„Wach auf!", rief ich und wandte mich ebenso meiner Mutter zu. Wieso kamen sie nicht zu Bewusstsein? Ob die Situation vielleicht doch schlimmer war, als ich angenommen hatte? Panisch ließ ich mich gegen den Fahrersitz sinken und tastete nach meinem Handy. Augenscheinlich wurde diese Straße sehr selten befahren, wenn man vom Unfallverursacher mal absah. Die erste kalte Träne rollte mir die Wangen herunter, als ich bitter enttäuscht feststellen musste, dass mein Handy nicht aufzufinden war. Dann, im Abendlicht, erkannte ich zwei Meter vom Wagen entfernt das Handy meiner Mutter liegen, das zumindest von hier unbeschädigt erschien. Ich hievte mich durch den Rahmen der zerbrochenen Windschutzscheibe und hielt inne, als sich etwas brutal in meinen Unterbauch bohrte. Der Schmerz entlockte mir ein Keuchen und vorsichtig tastete ich die Stelle ab, aus der etwas Spitzes, vermutlich eine Glasscherbe, herausragte. Natürlich hatte auch ich mitbekommen, dass man bei Blutungen niemals die Ursache herausziehen sollte, doch in diesem Moment war es mir schlichtweg egal. Mit der Scherbe konnte ich mich unmöglich weiter fortbewegen. Vorsichtig ging ich auf die Knie und schaffte es so die paar Meter zum Handy in gebeugter Haltung zu laufen. Während ich mit der linken Hand auf die Wunde presste, schnappte ich mir das Handy und drückte den Anschaltknopf. Kurz tat sich etwas, das Logo blinkte auf, dann wurde der Bildschirm wieder schwarz.

„Was?", stammelte ich und betätigte wie wild alles, was sich irgendwie am Handy eindrücken ließ. „Nein, das kann nicht sein!", rief ich hysterisch und sank in mich zusammen. Mit zusammengepressten Lippen, kurz vor dem Zusammenbruch, ließ ich das Handy sinken und sah mich um. Ich kniff die Augen zusammen. Lief dahinten etwa jemand? Verzweifelt und mit der letzten Kraft, die ich aufwenden konnte, hob ich beide Arme und schrie so laut um Hilfe, wie ich nur konnte. Die Gestalt schien sich jedoch weiter zu entfernen oder täuschte ich mich da? Vielleicht beging der Fahrer auch noch Unfallflucht?

Ich hatte wohl erneut das Bewusstsein verloren, denn als ich meine Augen wieder öffnete, war es gerade dunkel geworden. Kein Muskel in meinem Körper ließ sich bewegen und ich spürte bei jedem Atemzug die Schmerzen in Kopf und Bauch. Die Sicht auf meine Eltern war durch meinen eigenen schlaffen Körper versperrt, weswegen ich verzweifelt schluchzte. Hoffentlich lebten die beiden, hoffentlich kamen wir alle heil hier raus. An diesem einzigen Gedanken hielt ich mich fest, überlegte fieberhaft, wie wir es aus dieser Situation schaffen würden. Und dann plötzlich hörte ich Schritte. Sie erschienen mir weit entfernt, aber immerhin klar genug, um zu erkennen, dass da jemand von hinten auf mich zukam.

„Wer sind sie?", fragte ich in die Ferne und hoffte, dass ich nicht einfach mit der Luft sprach. Unter penetranten, stechenden Schmerzen und mit viel Kraft schaffte ich es mich zu drehen. Was ich dann sah, nahm mir den Atem.

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Black -mein SchutzengelWhere stories live. Discover now