1. Der Sprung

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Ich stand am Rand. Langsam ließ ich meinen Blick nach unten gleiten, zweihundert Meter waren zwischen mir und dem Boden. Ich fing an zu zittern, dann schaute ich auf die anderen zehn Kinder, die neben mir standen, ein Mädchen mit dunklem Haar schlotterte vor Angst und zwei weitere trauten sich nicht einmal an die Kante. Ich kannte nur einen, Donald aus meiner Parallelklasse. Neben mir stand ein stämmiger Junge, auf der anderen Seite stand ein kleines Mädchen mit grünen Haaren, ihr schien die Höhe nichts auszumachen. Langsam drehte ich mich wieder zum Abgrund, mein Körper sträubte sich, als ich hinunter schaute. Dann ertönte die Stimme von meinem älteren Bruder Joshua, er verkündete: »Gleich ist es soweit, an den Rand.« Langsam, ganz langsam ging ich noch näher an den Rand, meine nackten Zehen klammerten sich verkrampft um den kalten Rand. Nicht ausrutschen, nur nicht das Gleichgewicht verlieren, dachte ich, meine Hände verkrampften sich und ich fing an zu schwitzen, dann ertönte der Countdown: »11, 10, 9, 8, 7, ...« Alles in meinem Körper schrie, ich solle zurück treten. »6, 5, 4, 3, 2, 1, 0«. Bei der Null ertönte das Quietschen des Startsignals. Neben mir ließ sich das kleine Mädchen in die Tiefe fallen und auch die anderen sprangen oder fielen vom Dach. Ich nahm all den Mut zusammen, den ich noch hatte, und ließ mich fallen.

Ich flog erst langsam, dann immer schneller; ich raste auf den Boden zu, in den sicheren Tod! Adrenalin schoss durch meine Adern, doch wie sollte mir es helfen? Die vor wenigen Sekunden nicht zu erkennenden Menschen, die unten auf uns warteten, wurden immer deutlicher. Ich bekam keine Luft mehr vor Angst, ich suchte nach den Teilnehmern, die vor mir gesprungen waren, konnte aber nur einen etwas dickeren Jungen und ein dünnes Mädchen entdecken. Wo war das kleine Mädchen? Sie war mehrere Sekunden vor mir gesprungen, ich hätte sie nicht so schnell einholen können, doch dann sah ich sie, sie war auf einer Höhe mit mir, hatte die Augen geschlossen und ihre Haut war grünlich leuchtend, ihre Haare standen zu Berge und ihre Hände waren über ihrem Kopf. In der einen Sekunde war sie noch neben mir, dann schoss etwas grünliches aus ihren Händen und sie wurde an die Hauswand gezogen, ich wollte schauen, was passiert war, doch ich war schon nach wenigen Herzschlägen weitergerauscht.

Als ich wieder nach unten blickte, konnte ich sogar meinen Bruder erkennen, er stand unten bei den Passanten und beobachtete die Fallenden. Dann begriff ich, dass ich in wenigen Sekunden auf dem Boden aufschlagen würde. Als ich das begriff, fing ich an zu schreien. Ich werde sterben, dachte ich entsetzt, dann geschah es, alles um mich herum schien langsamer zu werden, der Boden schien nicht mehr näher zu kommen und ich spürte keinen Windrausch mehr. Verwirrt blickte ich nach oben. Hat jemand ein Seil nach mir geworfen, um mich aufzuhalten? Doch ich sah kein Seil, dann entdeckte ich zwei andere Kandidaten, die mitten in der Luft schwebten. Als ich genauer hinschaute, erkannte ich, dass der Junge den Mund aufgerissen hatte und zu schreien schien. Was war hier los? Langsam schaute ich nach unten, auch dort schienen alle erstarrt. Ich versuchte meine Füße zu bewegen, meine Füße schienen auf festem Boden zu stehen, obwohl ich mitten in der Luft hing! Langsam setzte ich einen Fuß vor den anderen, es war als würde ich auf einer Luftschicht gehen, und als ich wieder nach unten schaute, schien der Boden wieder näher gekommen zu sein. Ich ging weiter und nach einiger Zeit war ich noch näher am Boden. Es war, als würde ich eine Treppe hinuntergehen. Dann war ich am Boden angekommen. Auch hier schienen alle Menschen erstarrt, ein Junge hatte die Augen weit aufgerissen und seine Mutter schien so, als wollte sie ihn auf den Arm nehmen. Dann wurde mir klar, dass ich die ganze Zeit nicht geatmet hatte und dass ich jetzt nicht sterben würde. Erleichtert atmete ich auf und in diesem Moment bewegten sich alle Menschen wieder. Die Mutter hob den kleinen Jungen hoch, der angefangen hatte zu weinen. Langsam drehte ich mich um und schaute auf meinen Bruder, er starrte mich an und dann machte er einen Schritt zurück. »Joshua, ich bin's«, rief ich ihm zu und rannte auf ihn zu. Er wich weiter zurück immer weiter, er hatte Angst vor mir! Ich senkte meine Hände und blieb stehen, gerade, als er seinen Mund öffnete, gab es einen Aufschrei, erschrocken erstarrte ich und wirbelte herum, zehn Meter von mir entfernt kam das schlanke Mädchen gefallen, sie war wenige Meter vom Boden entfernt, als zehn G-Männer aus der Menge sprangen und ein Netz straff zogen. Einen Herzschlag später knallte das Mädchen auf das Netz, das sie sofort festhielt, damit sie nicht wieder hoch geschleudert werden würde. Eine ältere Frau rannte zu dem Mädchen, welches schluchzte und zitterte, als die Frau ihr aufhalf. Sie war unten angekommen, sie würde keinen Platz in Agrunus kriegen. Kurz nachdem das Mädchen von dem Ding hinunter geklettert war, hörte man erneut einen Wumms: Der dickliche Junge war auf das Netz geknallt. Dann hörte ich auch schon den Schlusspfiff. Aber wie konnte das sein? Es waren doch erst zwei Teilnehmer am Boden! Na gut, mit mir drei, und das Mädchen mit den grünen Haaren wurde ja an die Hauswand gezogen! Aber da bleiben immer noch sieben! Ich sah zum Himmel und entdeckte, dass der Junge, der neben mir gesprungen war, an einem Ballon hinunter glitt und ein weiteres Mädchen sich an der Luft festhielt und so langsam auf die Erde hinunter glitt.

Chroniken der Magie - LunaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt