Das Mizzie-Prinzip

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»Versprechen Sie mir, einmal wöchentlich in meine Sprechstunde zu kommen, Misses Convay. Sonst lasse ich Sie heute nicht gehen.«

Zur Bekräftigung seiner Worte wackelte Doctor Goldblum bedrohlich mit dem Kopf.

»Ja, ich versprech's«, antwortete ich lachend und verdrehte die Augen. Mein Traumcoach wollte mich noch ein halbes Jahr lang in regelmäßigen Abständen sehen. Zur klinischen Verlaufsbeobachtung, wie er lakonisch bemerkte.

»Wenn Sie nicht erscheinen, dann werde ich –«

»Schon gut, Doc. Ich werde da sein.«

Ich reichte ihm meine Hand zum Abschied, die er lange und kräftig drückte. »Und sollten Sie sich schlechter fühlen, kommen Sie bitte sofort zu mir. Unverzüglich, verstanden?«, schärfte er mir nochmals ein.

»Verstanden, Doc, wird gemacht. Aber warum sollte ich mich schlechter fühlen?« Mir ging es großartig, ich hatte mich nie im Leben besser gefühlt. Seit meinem Klartraum mit Tom vor zwei Wochen und meiner Aussprache mit Sam kurz darauf hatte ich keine Albträume mehr gehabt. Ich sah keinen Anlass für Doctor Goldblums Pessimismus.

»Ich weiß es nicht, Misses Convay ...«, antwortete er nachdenklich und runzelte die Stirn. »Dinge geschehen eben; sehr unerwartete Dinge, man kann nie wissen. Es könnte einen Rückfall geben. Falls ich etwas übersehen habe, und sei es auch nur eine Kleinigkeit ...«

»Was denn übersehen?«

Doctor Goldblum ließ seine Schnauzerenden zucken. »Nun, meine liebe Misses Convay, genau das ist die Krux mit dem Übersehen: Man sieht es nicht.«

Mit deutlichem Widerwillen drückte er mir je eine Packung Antidepressiva und Schlaftabletten in die Hand. »Es wäre mir wirklich sehr viel lieber, Sie würden die Medikamente hier bei uns ausschleichen. Stationär, wo ich Sie im Auge behalten kann. Reduzieren Sie also zu Hause die Dosis genau so weiter wie bisher. Setzen Sie die Präparate auf keinen Fall plötzlich ab, das bekäme Ihnen schlecht. Und treiben Sie vor allem keinen Schmu damit!«

»Werde ich nicht, Doc. So etwas mache ich nie wieder.«

»Na schön, Misses Convay. Ich will ein Schmock sein, wenn ich Ihnen nicht vertraue. Masel tov, Jachabibi, wir sehen uns nächste Woche. Und seien Sie pünktlich!«

Damit ließ mich Doctor Goldblum allein mit Schwester Mizzie, die unserem Dialog lächelnd zugehört hatte. Von ihr und ihren Kolleginnen hatte ich mich bereits im Schwesternzimmer verabschiedet, wo ich als Dank für ihre Fürsorge ein kleines Vermögen in edler Schokolade und feinsten Pralinen hinterlegt hatte.

Die quirlige Krankenschwester brachte mir nun die Dokumente, die ich unterzeichnen musste, um zu bestätigen, dass ich die Klinik auf eigenen Wunsch und gegen ärztlichen Rat schon heute verließ.

»Was meint er denn mit Jachabibi?«, fragte ich sie.

Sie grinste breit. »So bezeichnet Doctor Goldblum im Allgemeinen seine besten Freunde oder Menschen, die er überhaupt nicht kennt.«

Ich war nicht sicher, ob ich Schwester Mizzie richtig verstand. »Und ... soll das etwa ein Kompliment sein?«

»Wir bemühen uns seit Jahren, das herauszufinden, Misses Convay.«

Sie reichte mir die Papiere und einen Stift und zeigte mir, wo ich überall unterzeichnen sollte. Während ich eine Unterschrift nach der anderen setzte, behielt ich Schwester Mizzies Mundwerk argwöhnisch im Auge. Irgendetwas stimmte heute nicht mit ihr. Ich hatte sie stets als hyperaktiven Brummkreisel mit Sprechdurchfall erlebt, der wie ein Derwisch durch mein Zimmer propellerte.

»Warum sind Sie heute so anders, Schwester Mizzie?«, fragte ich sie, als ich ihr Stift und Papiere zurückgab.

Sie hob in gespieltem Erstaunen die Augenbrauen. »Bin ich das? Wie bin ich denn sonst?«

»Sie sind eine ziemliche Nervensäge«, entfuhr es mir, noch bevor ich die Worte einfangen und hinunterschlucken konnte.

Doch Schwester Mizzie nahm es mir nicht übel. »Ja, ich weiß. Das war Doctor Goldblums Idee. Er ist ein großartiger Mediziner, finden Sie nicht auch?«

»Doctor Goldblums Idee? Was soll das denn heißen?«

»Das hier ist die psychiatrische Abteilung, Liebes. Sie wissen doch, welche Menschen bei uns landen. Solange sich die Patienten über mich aufregen, kommen sie nicht in Versuchung, zu viel über sich selbst nachzugrübeln.«

Meine Kinnlade klappte so plötzlich und so weit nach unten, dass ich mich nicht gewundert hätte, wenn dabei ein donnerndes ›Rumms!‹ zu hören gewesen wäre. Die Frau war eine Schauspielerin! Womöglich eine bessere als ich.

»Sie haben einen Oscar verdient, Mizzie«, staunte ich. Ich musste zugeben, dass ihre Darbietungen mich stets sehr zuverlässig von meinen Problemen abgelenkt hatten, selbst nach den schlimmsten Nächten. Ob sie wohl durch Gehalt entlohnt wurde, wie alle anderen Krankenschwestern, oder erhielt sie eine ›Gage‹?

»Sie werden mir fehlen, Schwester Mizzie«, hörte ich mich plötzlich sagen und ich stellte fest, dass ich es sogar ernst meinte. »Meinen Traum werde ich allerdings überhaupt nicht vermissen. Wissen Sie, ich habe mich schon oft gefragt, wozu Albträume eigentlich gut sein sollen.«

»Nichts ist so schlecht, dass es nicht für irgendetwas gut wäre, liebe Misses Convay. Das dürfen Sie mir glauben.«

»Wow. Wo haben Sie das denn her?«

»Aus einem Disney Taschenbuch. Donald Duck hat das gesagt.«

Ich musste hier raus. Wenn ich noch länger blieb, würde sich die Krankenschwester, Schauspielerin und Philosophin in Personalunion zu einem äußerst facettenreichen Charakter entwickeln, und am Ende würde ich Schwester Mizzie womöglich meine Freundschaft anbieten.

Ich reichte auch ihr noch einmal die Hand. »Danke für alles, Schwester Mizzie. Ich hoffe, diesen schrecklichen Traum habe ich für immer ausgeträumt. Ein für alle Mal.«

Sie ergriff meine Hand und zog mich in eine feste Umarmung. »Es wird neue Träume geben, meine Liebe. Für ein neues Leben. Ich wünsche Ihnen von Herzen alles Gute«, sagte sie, drückte mich noch einmal an sich und verschwand – schon wieder im vertrauten Brummkreisel-Modus – mit den Papieren durch die Tür.

Neue Träume für ein neues Leben, hallten Schwester Mizzies Worte in meinem Kopf nach. Und als Sam, der den Großteil meines Krankenhausgepäcks schon in unseren Wagen verfrachtet hatte, nun lächelnd ins Zimmer trat, war ich durchaus bereit dafür.

Es ging endlich nach Hause.






Gehen Sie einfach durch die Wand! [Teil 1 als Leseprobe]Where stories live. Discover now