Sam

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Doctor Goldblum war mächtig stolz auf mich.

In so kurzer Zeit hätte noch keiner seiner Patienten einen solchen Erfolg erzielt, erklärte er mir. Auf sich selbst war er wohl noch um Einiges stolzer, denn er sah dabei aus wie ein Hundedompteur, der einem beißwütigem Kampfterrier ohne bestandenen Wesenstest durch seine spezielle Methode beigebracht hatte, bei ›Sitz!‹ zu sitzen.

Ein Leckerli bekam ich trotzdem nicht. Die Käsetortellini heute Mittag waren genauso Käse wie die vor zwei Wochen. Vielleicht waren es ja sogar die Tortellini von vor zwei Wochen.

Ich ließ die Mahlzeit unangetastet zurückgehen, weil ich vor Aufregung ohnehin keinen Bissen hinunterbekam. Sam würde mich heute Nachmittag besuchen und ich wusste nicht, wie unsere erste Begegnung, mehrere Wochen, nachdem ich mir alle meine Schlaftabletten auf einmal einverleibt hatte, ablaufen würde. Mein Versuch, ihn und die Welt zu verlassen, ohne mich ihm anzuvertrauen, musste ihn sehr verletzt haben. Ich freute mich auf Sam und zugleich hatte ich Angst, er würde mir nicht vergeben können.


»Hallo Sam.«

»Madison.«

Kaum war Sam eingetreten und die knappe Begrüßung erledigt, erfüllte schon das peinliche Schweigen mein Zimmer, das ich so gern vermieden hätte. Wir waren beide befangen und Sam hatte keine Blumen mitgebracht, die ich ausgiebig hätte bewundern können. Uns war beiden bewusst, dass ich zuerst den Mund aufmachen musste. Denn ich hatte es vergeigt, nicht Sam.

»Danke, dass du den Notarzt geholt hast. Ich verdanke dir mein Leben.«

»Warum hast du das getan, Madison?«, wurde mein Dank beiseite gewischt. Es war ihm anzusehen, dass er in diesem Moment versuchte, ungefähr ein Dutzend widerstrebender Gefühle zu beherrschen. »Liegt es an mir? Bist du unglücklich?«

»Jetzt nicht mehr, Sam. Ich war unglücklich, aber nicht deinetwegen. Es gab da etwas, worüber ich nicht hinwegkommen konnte.«

Sam sah mich mit einem Ausdruck an, den ich nicht deuten konnte. Ich ließ ihm Zeit, die Information zu verarbeiten. In unserer jungen Ehe hatte er mich niemals traurig erlebt. Oder verzweifelt. Ich war eine exzellente Schauspielerin gewesen. Anscheinend ging Sam genau dieser Gedanke durch den Kopf, denn in seiner Stimme lag mehr Skepsis als Erleichterung.

»Und jetzt ... bist du darüber hinweg?«

»Ja, Sam. Es ist jetzt vorbei.«

»Sicher?«

»Ganz sicher.«

Sam blickte mich an, als wollte er mir gern glauben. Dann wandte er den Kopf plötzlich zum Fenster, kniff die Augen zusammen, als hätte er da draußen etwas entdeckt, und hob eine Hand, als wollte er mich darauf aufmerksam machen, damit ich es auch sehen konnte. Doch er ließ den Arm langsam wieder sinken, als er erkannte, dass es im Innenhof der Klinik rein gar nichts zu sehen gab, das geeignet war, die alte Vertrautheit oder auch nur so etwas wie Unbefangenheit zwischen uns wieder herzustellen. Mit der Hand fuhr er sich durch die Haare, wie um die Bewegung seines Armes zu vollenden und sah mir eine Sekunde lang direkt in die Augen. Dann verlor sich sein Blick in der Betrachtung seiner Schuhe.

»Sam?«

»Hm?«

»Könntest du mich vielleicht ›Maddy‹ nennen?«

Nichts hätte Sam mehr erstaunen können. Er wich sogar einen Schritt zurück, als er antwortete. »Ja, natürlich. Aber das wolltest du doch nie.«

»Auch das ist jetzt anders.«

Er schenkte mir ein unsicheres Lächeln. »Okay. Das mache ich gern. Maddy.«

Es war ungewohnt, den alten Kosenamen nach so vielen Jahren wieder zu hören. Nicht von Tom, sondern von Sam. Und es tat nicht einmal weh.

»Und, Sam, wenn die mich hier rauslassen ... das wird ziemlich bald sein, denke ich ... gehen wir dann mal wieder zusammen ins Kino?«

Sams Lächeln bekam etwas Schlagseite. Ich mochte es, wenn er so schief lächelte. »Klar, warum nicht. Was möchtest du denn ansehen?«

»Ist mir eigentlich egal. Nur möglichst keinen Horrorfilm.«

»Aber auch keine Schnulze.«

»Einverstanden.«

Endlich setzte er sich in Bewegung und ließ sich auf dem Besucherstuhl nieder, den ich vorhin ganz nah an mein Bett gerückt hatte, auf dem ich im Schneidersitz hockte, weil es hier keinen zweiten Stuhl gab. Er schwieg beharrlich.

»Sam, ich habe viel nachgedacht in den letzten Wochen. Meinst du, wir könnten eines Tages den gleichen Namen tragen?«

»Denkst du dabei an ›Madison Addison‹?«

»Oh. Hast recht, das hört sich dämlich an.«

»Wie würde dir ›Sam Convay‹ gefallen?«

»Das würdest du machen?«

»Sicher. Klingt doch cool. Aber erst gehen wir zusammen ins Kino.«

Meine überkreuzten Beine schliefen langsam ein und ich streckte sie auf dem Bett aus. Ich musste mich dringend bewegen.

»Sam, wollen wir in die Cafeteria gehen? Das Essen hier ist ein Witz, aber sie schaffen einen ganz ordentlichen Kaffee.«

Doch Sam schüttelte den Kopf. Seine Miene war wieder einmal verschlossen, aber nicht unfreundlich.

»Maddy, wir müssen reden«, sagte er ernst, und ich verschränkte automatisch die Arme vor der Brust. Mir war nicht nach Reden, jetzt noch nicht.

»Worüber denn?«, fragte ich und hoffte, es klang nicht allzu abweisend.

»Über uns. Wir sind seit einem Jahr zusammen und seit drei Monaten verheiratet. Ich dachte, ich kenne dich.«

Ja, dafür hatte ich gesorgt. Ich hatte die perfekte Illusion einer harmonischen Beziehung geschaffen – und mich dann einfach aus dem Staub machen wollen. Mir wurde klar, dass ich um diese Aussprache nicht herumkommen würde, die Sam nun ausgerechnet mit den Worten einleitete, die ich so lange einstudiert hatte:

»Wer bist du?«






Gehen Sie einfach durch die Wand! [Teil 1 als Leseprobe]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt