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Raphael

Ich wünschte, ich wäre tot. Dann müsste ich nicht jeden Tag mit dieser beschissenen Migräne und meinen Panikattacken leben. Dann müsste ich nicht ständig diese grässliche Narbe zur Schau stellen. Eine Narbe, die mir dieser Mistkerl vor vier Jahren zugefügt hat. Eine Narbe, die im Zickzackmuster über meine linke Wange verläuft. Das, meine Panikattacken und die Tatsache, dass ich eher ein Einzelgänger bin, sorgen dafür, dass ich mich lieber daheim verschanze und nur rausgehe, wenn es unbedingt sein muss. Ansonsten bleibe ich zu Hause vor meinem Laptop und schreibe. Ich bin Autor. Dafür muss ich nicht in ein Büro, in dem zwanzig andere Sesselfurzer sitzen und mich schräg anschauen oder beschämt weggucken, sobald ich den Raum betrete. Das Schreiben von Büchern erledigt sich von zu Hause aus. Ganz einfach. Ungestört. Still. Unbeobachtet.
Für die Autorenbeschreibung hat der Verlag ein Foto bekommen, das vor fünf, vielleicht sechs Jahren entstanden ist. Da sah ich noch menschlich aus. Und hätte es diesen 18. August nicht gegeben, sähe ich wahrscheinlich auch immer noch so aus. Human. Aber wie sich herausstellte, hatte der Typ Schlagringe an seiner rechten Faust. Im Kampf war das nicht ersichtlich. Mir wurde es im Nachhinein erzählt. Nach dem Zu-mir-Kommen. Von einem plastischen Pfuscher. »Es tut uns leid, Ihnen mitteilen zu müssen, dass Sie eine kleine Narbe davontragen werden. Die Wunde ging tief, und wir haben das Bestmögliche daraus gemacht. Aber sehen Sie es positiv: Die Narbe wird Sie immer daran erinnern, wie heldenhaft Sie waren.« So in etwa hat es dieser Arsch ausgedrückt. Klar. Ist ja auch nicht seine Visage, die da entstellt wurde. Im Nachhinein hätte ich ihm gern antworten wollen. Denn damals konnte ich nicht. Ich war gerade wieder zu mir gekommen, mit den Kopfschmerzen meines Lebens. Außerdem tat mir mein Gesicht höllisch weh. Sprechen war da für mich eher zweitrangig. Aber jetzt würde ich mich anders entscheiden. Den Schmerz ignorieren und ihm ein paar Fragen stellen.
Frage A: Was, zum Teufel, verstehen Sie unter klein? Also mal ehrlich – eine Narbe, die sich über eine komplette Gesichtshälfte zieht, ist meiner Definition nach nicht KLEIN. Frage B: Wo haben Sie Ihren verdammten Facharzt gemacht? Meine Oma konnte halbblind besser nähen als Sie, Sie Pseudodoktor. Also, wenn das das Bestmögliche ist, hätten Sie die Wunde auch einfach so zuheilen lassen können. Dann wäre vielleicht nicht so eine Wulst in meinem Gesicht. Frage C: Was daran soll bitte positiv sein? Ich bin entstellt, verdammt!
Ja, ich habe dieser Frau geholfen. Und ja, ich hätte es immer wieder getan. Aber ich bereue es. Jeden verdammten Tag bereue ich es. Nicht, dass ich der Frau geholfen habe. Aber meine Vorangehensweise. Wie bescheuert kann man denn bitte sein, im Alleingang gegen so einen Hünen aus geballter Brutalität anzutreten? Ich hätte noch jemanden dazuholen sollen. Dann wäre der Schaden geringer ausgefallen. Denn eigentlich – so herzlos es auch klingen mag – war es eh schon zu spät. Er hat sie ja bereits vergewaltigt. Die Minute, die es mich gekostet hätte, Unterstützung zu holen, hätte es auch nicht mehr rausgerissen. Aber ich Vollidiot ließ mich von meiner Wut treiben und musste einen auf Hulk machen. Dafür hasse ich mich. Abgrundtief. Mehr als diesen Flachwichser, der mir das angetan hat. Denn der kann einem eigentlich nur leidtun. Immerhin ist der psychisch so kaputt, dass es schon an Verstümmelung grenzt. Er ist eine Missgeburt. Ein Bastard. Durch und durch bemitleidenswert eben.
Ich frage mich oft, was aus der Frau geworden ist. Wie es ihr mittlerweile geht. Leider habe ich nie wieder etwas von ihr gehört. Eine der Krankenschwestern hat mir zwar damals ein Dankeschön ausgerichtet, das sie sich – da bin ich mir absolut sicher! – einfach ausgedacht hat, weil ich ihr so leidtat. Der Einzige der königlichen Familie Fuchs, der sich bei mir gemeldet hat, war das bescheuerte Familienoberhaupt. Ihr geldkotzender Vater. Er kam eines Tages, ich glaube, es war zwei Wochen nach meiner Entlassung, bei mir vorbei und wollte mir ernsthaft Geld dafür geben, dass ich nicht zur Presse renne und Klatsch verbreite. Jetzt mal ernsthaft – wieso, in Herrgotts Namen, sollte ich durch die Weltgeschichte spazieren und das Leid dieser jungen Frau herausposaunen? Was hätte ich davon?
Ich habe den Pisser mit seinem Schweigegeld zum Teufel geschickt. Soll er doch daran ersticken. Oder sich damit um das Wohl seiner Tochter kümmern. Denn auch, wenn ich nie wieder was von ihr gehört habe, liegt mir ihr Wohl irgendwie doch am Herzen. Weiß der Geier, warum. Deshalb kann ich sie einfach nicht vergessen. Selbst, wenn ich, gerade an kopfschmerzreichen Tagen, den unbändigen Drang verspüre, sie einfach nur aus meinem Gedächtnis zu löschen, kann ich es nicht. Weil sich dann jedes verdammte Mal das Bild ihrer schönen grünen Augen in mein Bewusstsein schiebt. Diese Augen, die einmal wie zwei Sterne gefunkelt haben müssen. Die, als ich sie sah, aber ihren ganzen Glanz verloren hatten. Und genau diese Mattheit besänftigt mich immer. Dagegen bin ich genauso machtlos wie gegen die Narbe in meinem Gesicht und das Schädel-Hirn-Trauma, das mir, wortwörtlich, immer noch Kopfschmerzen bereitet.
Ich hatte mal die Idee, ihre Augenfarbe einem meiner Charaktere zu geben, um vielleicht davon loszukommen. Den Gedanken habe ich aber schnell wieder verworfen. Es klingt komisch, ist wahrscheinlich auch total bescheuert, aber dieser Moment mit den außergewöhnlichen Augen gehört mir. Ich habe mich in ihnen verloren. Es ist mein Lichtblick an dunklen Tagen zu wissen, dass sie immer noch existieren. Vor allem aber ist es meine letzte Erinnerung an das Geschehene. Mein Rettungsanker, wenn ich an meinem Verstand zweifle. Das will ich nicht mit der Öffentlichkeit teilen. Dann hätte ich gar nichts mehr. Nichts mehr, für das es sich zu hoffen lohnt. Denn ich hoffe, dass diese Augen mittlerweile wieder glänzen. Dass sie lebendig statt tot sind. Dass sie wieder wie zwei himmlische Sterne leuchten. Ich frage mich, ob sie dann anders aussehen würden. Nur zu gern würde ich es herausfinden.
Andererseits fürchte ich mich auch davor, feststellen zu müssen, dass dem nicht so ist. Also bleibe ich lieber bei meiner Vorstellung, ihre Augen würden wieder leben, und bei den braunen Augen meines Protagonisten. Ein Polizist in meinem Krimi. Mein dritter in vier Jahren. Vielleicht das einzig Gute, das nach meiner hirnlosen Superheldenaktion passiert ist. Ich habe zum Schreiben gefunden. Davor wusste ich nie, über was ich schreiben sollte. Nicht mal, welches Genre. Der Drang zum Schreiben war immer schon da. Nur die Idee nicht. Die passenden Worte haben einfach gefehlt. Ich habe mich zu sehr von den Meisterwerken anderer großer Schriftsteller beeinflussen lassen. Wollte ihnen nacheifern. Natürlich konnten so keine eigenen Ideen entstehen. Aber als ich im Krankenhaus zu mir gekommen war, kamen auf einmal haufenweise Ideen. Als hätte der Bastard irgendeinen Knopf in meinem Hirn aktiviert. Jedenfalls lief von da an alles wie von selbst. Kaum, dass ich wieder zu Hause war, schnappte ich mir Laptop und Notizbuch, setzte mich an meinen Arbeitsplatz und schrieb drauf los.
Ein Wort folgte dem anderen. Sätze reihten sich aneinander. Charaktere und Handlung verknüpften sich. Ich schrieb Tag und Nacht. Dabei ist nicht nur der erste Teil meiner Krimireihe entstanden. Es war und ist immer noch eine Art Schmerztherapie. Wenn ich schreibe, habe ich keine Kopfschmerzen. Dann bin ich jemand anders, in einer anderen Welt und mit anderen Problemen. In dem Fall der vierundzwanzigjährige Kriminalpolizist, der sich mit den kniffligsten Mordfällen auseinandersetzt. Klingt vielleicht im ersten Moment ziemlich klischeehaft und nach typisch Krimi, aber ich schreibe alles ein bisschen anders. Und es scheint zu funktionieren.
Die Leute lesen meine Bücher und reden darüber. Der Verlag hat mir einen Blog eingerichtet, in dem ich mindestens einmal die Woche etwas veröffentlichen muss. Es muss nicht mal irgendwas Weltbewegendes sein. Hauptsache, ich halte den Kontakt zu meinen Lesern. Gerade stöbere ich in besagtem Blog und lese mir die Bewertungen meines letzten Buches durch. Erstaunlich, was für Fragen ein Buch aufwerfen kann, obwohl man als Autor fest davon überzeugt ist, eigentlich alles gesagt zu haben. Und dennoch kommt mir bei all diesen Kommentaren immer der Gedanke, warum ich darauf nicht selbst gekommen bin. Weswegen ich teilweise so was wie einen Brainstorming-Chat einrichte. So erfülle ich den Wunsch des Verlags und bekomme gleichzeitig neue Ideen. Irgendwie macht das sogar Spaß. Der derzeitige Chat ist auch so ein Brainstorming-Chat. Es geht um ein kleines, aber bedeutendes Detail der Geschichte. Ein verschwundenes Kind. Frage: Welche Klamotten könnte es zum Tatzeitpunkt getragen haben? Die Geschichte spielt im Herbst. Alle Möglichkeiten sind also offen. Gespannt gehe ich die Diskussionen durch. Alle sind ganz okay. Aber zu langweilig. Ich verwerfe sie.
Denkt auffälliger! Der Täter muss auf das Kind aufmerksam werden!, tippe ich als Ansporn. Welches Geschlecht dieses Kind haben soll, steht noch nicht fest. Das zeigt sich bei der perfekten Garderobe. Die einen gehen davon aus, dass es ein Junge wird. Dementsprechend schlagen sie auch nur jungenspezifische Klamotten vor. Die anderen denken eher an ein Mädchen. Und ich weiß es noch nicht. Vielleicht, aber nur, wenn ich zwei grandiose Vorschläge bekomme, mache ich ja ein Geschwisterpaar. Zwillinge oder so. Mal gucken. Gespannt verfolge ich die Diskussionsrunde, als es draußen zu scheppern beginnt. Was zur Hölle …?
Neugierig und zugegebenermaßen ein wenig paranoid springe ich auf und hechte zum Fenster. Ich schiebe den immer geschlossenen Vorhang einen Spaltbreit auf die Seite und spähe hindurch. Eine Umzugsfirma. Dann ist heute wohl der Tag, an dem ich einen neuen Nachbarn beziehungsweise eine neue Nachbarin bekomme. Susanne hat ihre Doppelhaushälfte verkauft. Davor hat sie aber mächtig umgebaut, um zwei getrennte Wohnungen daraus zu machen. Ich will nur eine friedliche Nachbarschaft. Ich will meine Ruhe. Am liebsten wäre mir ein Rentner, der ebenfalls den Rest seines Lebens in Ruhe verbringen will und kein Interesse an anderen zeigt. Ich muss und will auch gar nicht wissen, wie mein Nachbar heißt. Es reicht mir ein kurzes Nicken, wenn man sich zufällig über den Weg läuft. Auf Smalltalk kann ich gut und gerne verzichten. Ich will nichts über die Lebensgeschichte anderer hören. Und genauso wenig will ich über meine eigene reden. Also nein!
Grummelnd lasse ich den Vorhang wieder zurückfallen, schnappe mir meine Kopfhörer und setze mich zurück an meinen Laptop. Besser, ich blende den ganzen Lärm aus und konzentriere mich auf mein Buch. Ansonsten könnte es passieren, dass ich wieder Kopfschmerzen bekomme. Dann muss ich kotzen. Wortwörtlich. Und darauf, meinen Hühnchen-Wrap in alle Einzelteile zerlegt, getränkt in Galle und sonstigem Zeug vom Boden aufzuwischen, kann ich getrost verzichten.

Gegen Abend scheint das Chaos ein Ende gefunden zu haben. Jedenfalls sehe ich keine Schemen von Transportern oder Männern, die selbst als Schrank durchgehen würden, mehr. Schließlich wage ich noch einen Soundcheck. Stille. Kein Brummen, kein Brüllen, kein Lachen. Herrlich! Zufrieden packe ich mein Zeug – Ohrstöpsel, Laptop, Notizbuch – zusammen und verstaue alles, wo es hingehört. Bei meinen Arbeitsmaterialien bin ich penibel darauf bedacht, dass alles seinen rechtmäßigen Platz hat. Ich hasse es, etwas suchen zu müssen. Dann verfalle ich in eine Art Panik. Das war nicht immer so. Im Gegenteil. Früher war ich ein eher chaotischer Mensch. Mir war egal, wo meine Sachen lagen. Ich lebte nach dem Motto: Wird schon wieder auftauchen. Wenn ich etwas nicht fand, nahm ich halt was anderes. So einfach war das.
Aber seit jener Nacht geht das nicht mehr. Wenn ich etwas nicht finden kann, fühle ich mich hilflos. Nichtsnutzig. Dann brechen die Erinnerungen dieser Nacht wie Wellen über mir zusammen. Mein Leben erscheint mir wie eine dunkle, verwinkelte Gasse. Wie jene vom 18. August. Stimmen schreien in meinem Kopf. Flehen mich an. Es kann durchaus passieren, dass meine Fantasie mich hinters Licht führt. Mir einredet, der Gegenstand, den ich suche, wird draufgehen, wenn ich ihn nicht finde. Das wiederum macht mich noch panischer. Noch hilfloser. Und dann ist Schicht im Schacht. Dann fange ich an zu zittern. Reiße alles aus den Schränken. Schleudere es durch die Räume. Das bedeutet noch mehr Chaos. Letztendlich lande ich in einem Teufelskreislauf. Bis ich, am ganzen Körper bebend, auf alle viere sinke und wie paralysiert auf den Boden starre. So lange, bis alles vor meinen Augen verschwimmt, ich mich erschöpft zusammenrolle und Atemübungen mache, die mir mein Neurologe empfohlen hat, um den Kopfschmerzen Einhalt zu gebieten. Funktioniert zwar nicht, denn die Kopfschmerzen bleiben trotzdem standhaft, aber so habe ich wenigstens was zu tun, bis mein Puls wieder ein normales Tempo erreicht hat.
Manchmal schlafe ich danach einfach ein. Auf dem Boden. In Embryonalstellung. Susanne hat mich mal so gefunden. Sie dachte, ich hätte einen Selbstmordversuch begannen. Es war eine Heidenarbeit, sie und den Psychodoc, den man auf mich angesetzt hat, davon zu überzeugen, dass dem nicht so war. Irgendwann, ich weiß nicht, wie lange ich mir den Mund fusselig geredet habe, haben sie mich dann doch gehen lassen. Einfach so. Nur mit der Bedingung, einen Termin bei meinem Neurologen zu machen. Den ich wiederum missachtet habe.
Arztpraxen sind mir zuwider. Kranke Menschen in kahlen Räumen, die einem Fragen stellen wie: »Und was fehlt Ihnen?« Warum zur Hölle will man so was wissen? Einmal – und im Nachhinein bereue ich es tatsächlich aus vollem Herzen – habe ich einer Frau erzählt, ich hätte einen Tumor im Hirn und sei hier, weil mir der Arzt beim Sterben helfen wolle. Das war gemein. Und lustig auch nicht. Die Frau ist nämlich in Tränen ausgebrochen, hat – ungelogen – angefangen für mich zu beten und bekam gleich darauf einen furchteinflößenden epileptischen Anfall. In meinem Kopf waren nur Platz für Gedanken à la: Hätte sie doch bloß die Klappe gehalten! Dann wäre das gar nicht erst passiert. oder Krass, sieht das heftig aus! oder – und den Gedanken bereue ich am meisten – Wird schon nicht so schlimm sein. Sie ist es ja gewohnt. Ansonsten wäre sie nicht hier.
Mein Termin wurde natürlich verschoben, und ich bin wieder nach Hause gegangen. Was aus der Frau geworden ist, und vor allem, weswegen sie wirklich beim Neurologen war, habe ich nie erfahren. Hätte mich damals eh nicht interessiert. Komischerweise jetzt schon. Aber jetzt ist es zu spät. Seitdem versuche ich, es zumindest bei einer Person besser zu machen. Bei Manuel, einem zwölfjährigen Jungen aus der Nachbarschaft. Manuel hat’s nicht leicht. Seine Eltern vernachlässigen ihn, wo es nur geht. Klamotten hat er praktisch keine. Und wenn, dann sind sie ihm zu klein. Er selbst ist auch wahnsinnig klein und dürr wie ein Stock. Vom Verhalten her ist er eher still und schüchtern. Reden tut er nur selten. Aber wenn, dann hört er sich an wie dreißig. Weise und richtig erwachsen. So reif, wie es ein Zwölfjähriger nicht sein sollte. Wenn ich ihm nachmittags an der Isar begegne, sitzen wir manchmal stumm nebeneinander und beobachten die Sonne beim Untergehen. Das ist schon fast meditativ. Beim ersten Mal habe ich ihn gefragt, ob sich seine Mutter keine Sorgen macht, wenn er nach Sonnenuntergang nach Hause kommt. Er meinte nur, dass es ihr wahrscheinlich gar nicht auffallen würde, weil »ihre Serien ab sechzehn Uhr beginnen«. Ich habe es dabei belassen. Es passt ihm glaube ich ganz gut, wenn er seine Ruhe hat. Wenn ihn keiner zum Reden zwingt.
Nur manchmal, wenn es ihm wirklich dreckiggeht, an Tagen, die sowohl zu Hause als auch in der Schule katastrophal waren, durchbricht er die Stille und erzählt mir davon. Er erwartet dabei aber keine Antwort. Keine falschen, aufbauenden Worte, die ich als der Inbegriff von Pessimismus eh nicht über die Lippen gebracht hätte. Ihm genügt es, wenn ich einfach nur zuhöre, bis er sich, ohne auch nur einen Schluchzer von sich zu geben, alles von der Seele geredet hat. Etwas, das ich ausnahmsweise mal kann: zuhören und kein Urteil fällen. Und mal ehrlich? Ich bin wohl kaum in der Position, andere Menschen zu verurteilen. Vielleicht, aber das ist nur eine vage These, gelingt es mir deshalb so gut, in meine Bücher immer mal wieder die Perspektive des Täters einfließen zu lassen. Auch, wenn mir immer davor graust. Denn Straftäter, also jene, die mit Gewalt anderen Menschen schaden, verurteile ich irgendwie doch. Die sind krank, kaputt und bemitleidenswert. Ich bin jetzt auch kein Genie, was das menschliche Sozialverhalten betrifft, aber diese Leute besitzen das Wort noch nicht mal in ihrem Grundwortschatz. Das macht sie in meinen Augen einfach nur dumm. Auch wenn viele dieser gesellschaftlichen Bastarde hochintelligent sind.
Erschöpft vom Tippen, Überlegen und der Dauerbeschallung meiner Playlist schleppe ich mich ins Badezimmer, um mir die abendliche Wanne voll warmem Wasser mit einem Beruhigungsschaumbad, das mir Susanne nicht nur empfohlen, sondern richtiggehend aufs Auge gedrückt hat, zu gönnen. Anfangs habe ich mich geweigert, es zu benutzen. Nicht, weil es stinkt oder so. Nein. Einfach des Protestes halber. Aber weil ich keine Lust habe, in eine übervolle Drogerie zu fahren, benutze ich das Vanille-Orchidee-Schaumbad (femininer geht es wohl kaum) halt doch. Ich kippe mehr als genug der Creme ins Wasser, in der Hoffnung, dass es bald leer ist. Na gut, und weil es wirklich beruhigend riecht. Als das Wasser fast den Pegel erreicht hat, an dem es mit mir darin über den Badewannenrand schwappen würde, entledige ich mich meiner Jogginghose und meines T-Shirts. Beides lege ich zur Seite, um es hinterher noch einmal zu tragen. Da ich heute den ganzen Tag zu Hause war, kann ich nicht behaupten, außerordentlich viel geschwitzt zu haben. Die Klamotten sind also noch frisch genug. Nur die Boxershorts landen direkt im Wäschekorb. Alles andere wäre nämlich eklig.
Ein wohliger Seufzer entfährt mir, als ich bis zum Hals in der vanilleverpesteten Suppe liege. Die Augen fallen wie von selbst zu. Wahrscheinlich hat das mein Körper schon verinnerlicht. Warmes Wasser, Vanille-Orchidee-Geruch, früher Abend und zack – die Augenlider klappen nach unten. Wie ein Automatismus. In diesen ruhigen Momenten kann ich zumindest einmal am Tag dankbar sein. Dankbar dafür, dass meine hirnrissige Superheldennummer mich nicht ins Gras hat beißen lassen. Dass ich noch laufen kann. Eigenständig leben kann. Ich bin entstellt, psychisch im Eimer und seither ein mürrisches Arschloch, das gelegentlich den Wunsch verspürt, lieber tot zu sein. Aber im Grunde will ich das ja gar nicht. Tot sein, meine ich. Gegen den Rest lässt sich eh nichts mehr machen. Eigentlich bin ich sogar heilfroh, dass ich noch am Leben bin. Das mag jetzt vielleicht eingebildet klingen, aber dadurch, dass ich dem Tod noch mal von der Schippe gesprungen bin, kann ich mein Talent beweisen. Der Gesellschaft etwas nützen. Und wenn es nur Geschichten sind, die Leute von ihren eigenen Problemen ablenken. Sie eventuell sogar zum Nachdenken anregen. Das macht mich in meinen Augen wichtig. Lebenswert.
Der von Vanille geschwängerte Dampf umnebelt mehr und mehr meine Gedanken. Ich werde schläfrig. Falle in einen Dämmerzustand. Wenn das Wasser nicht die perfekte Temperatur hätte, würde ich aufstehen. Sollte ich wirklich. Aber wie schon gesagt: Das Wasser ist wohlig warm. Also lasse ich die Müdigkeit gewinnen. Ergebe mich dem Schlaf. Falle ins Reich meiner bösen Träume.

Es ist dunkel. Fast schwarz. Weit entfernt erahne ich das flimmernde Licht einer Leuchtreklame. Ein seltsames Grün. Kaum erkennbar, aber sehr präsent. Ich bin hin und her gerissen. Mein Gefühl sagt mir, dass ich dort hingehen sollte. Mein Verstand rät mir davon ab. Es ist ja nicht unbekannt, dass mein Gefühl mich schon des Öfteren hinters Licht geführt hat. Mein Verstand allerdings ist auch kein Unschuldslamm. Auch der trügt mich mehr, als mir lieb ist. Also was? Neugierde gegen Vernunft? Neugierde ist gefährlich. Vernunft dagegen langweilig. Und was sollte ich schon hier in diesem – ja, wo bin ich eigentlich? Sieht aus wie eine Gasse. Die hohen Betonmauern, die über mir aufragen, deuten darauf hin.
Aber wie schon gesagt: Es ist verdammt dunkel. Eigentlich ist es ja auch egal, was es ist. Weg muss ich hier sowieso. Die Dunkelheit scheint mich zu erdrücken. Dazu noch die klaustrophobisch wirkenden Betonmauern und das faszinierende grüne Licht. Wirklich unheimlich. Entschlossen, der Neugierde Gefolgschaft zu leisten, setze ich mich in Bewegung. Ich schlängle mich wie ein Straßengauner durch das Labyrinth aus Beton, das grüne Licht im Fokus. Irgendwie befürchte ich, dass es verschwindet, wenn ich den Blick auch nur eine Sekunde lang abwende. Ich lasse es also nicht aus den Augen. Sicher ist sicher. Und gleich habe ich es geschafft. Das Licht wird heller. Fast grell. Noch einmal nach links und dann …
Mir bleibt das Herz stehen, als ich begreife, was ich da sehe! Das Gesicht einer Frau. Einer schönen Frau. Gemalt, vielleicht mit Spraydosen, auf eine der Wände. Ihr Gesicht wirkt leer. Die Gesichtszüge entglitten. Nur ihre Augen … die sind ungewöhnlich. Ungewöhnlich schön. Zwar genauso leblos wie der Rest des Gesichtes, aber dennoch sprühen sie. Plötzlich wird mir klar, woher dieses mysteriöse Licht kam. Ihre Augen verbreiten es. Fasziniert trete ich einen Schritt näher an das Porträt heran und hebe die Hand, um es zu berühren. Ich habe das Gefühl, dass sie mich beobachtet. Und als ich die raue Wand, den Teil ihrer rechten Wange berühre, klappt ihr Mund auf. Ein ohrenbetäubender Schrei hallt durch die Gegend. Schießt mir durch Mark und Bein.
Erschrocken trete ich wieder zurück. In eine Pfütze. Wo kommt die denn auf einmal her? Schockiert stelle ich fest, dass die Pfütze sich vertieft. Zu einem See wird. Vielleicht sollte ich mal damit anfangen, Schwimmbewegungen zu machen. Nur bin ich viel zu gefesselt von der schreienden Frau/ Mauer vor mir. Jetzt bin ich mir sicher, dass sie mich beobachtet. Ihr Blick, dieser flussgrüne Strudel, hält meinen fest, bis ich ganz versinke. Das Wasser schlägt über mir zusammen …

Prustend und um mich schlagend schrecke ich hoch. Nicht nur im Traum bin ich abgesoffen. Nein. Auch in der Realität hat mich das Wasser quasi verschluckt. Anscheinend habe ich doch tiefer geschlafen als gedacht. Die Schlaffheit, die der Körper im Tiefschlaf erreicht, hat mich langsam, aber sicher ins tiefe Nass gleiten lassen. Keuchend und nach der dunstigen Luft ringend, wische ich mir den brennenden Schaum aus den Augen. Ich sollte mir wirklich ein anderes Schaumbad zulegen. Eines, das mich nicht so schläfrig macht. Außerdem sollte ich bei der Temperatur des Wassers einen Gang runterschalten. Darauf achten, es nicht so heiß werden zu lassen, dass auch klare Luft im Raum bleibt. Der Dampf soll zwar gut für die Atemwege sein, aber es fühlt sich eher so an, als ließe er mich ersticken. Also auch nicht das Wahre. Mit Atemübungen, die den Herzschlag wieder auf ein normales Tempolimit bringen sollen, raffe ich mich auf, erledige in Rekordzeit die Körperreinigung und sehe zu, dass ich aus der Plörre rauskomme.
Meine Kopfschmerzen haben sich auf das Minimum reduziert, sind aber trotzdem noch so präsent, dass ich die Augen zusammenkneifen muss, um jegliche Reize, die durch das Sehen entstehen, zu vermeiden. Zum Glück bin ich es nach vier Jahren gewohnt, mich blind anzuziehen. Noch schnell Zähne putzen, und dann nichts wie ins Bett. Dieser seltsame, furchteinflößende Traum hat mich mehr erschöpft als die ganzen Aktivitäten des kompletten Tages. Was zum Teufel war das? Eine Mauer, die ein Frauengesicht trug? Leider kann ich mich an das Gesicht nicht mehr genau erinnern. Ich weiß nur noch, dass es schön war und es mir verdammt bekannt vorkam.
Schon seltsam, was die Psyche im Schlaf so treibt. Und komisch, dass das Unterbewusstsein kaum eine Erinnerung zulässt. Anscheinend hat nur das Kurzzeitgedächtnis Zugriff darauf. Und das ist, wie der Name schon sagt, kurz. Weiß der Geier, woran das liegt. Ich weiß nur so viel: Dieses Gesicht wird mich noch eine Weile verfolgen. So lange, bis ich es in irgendwem wiedererkenne. Das steht fest. Nur, wer könnte das sein? Vielleicht eine Kassiererin aus dem Supermarkt, in dem ich immer einkaufe? Da arbeiten durchaus hübsche, wenn auch sehr junge Frauen. Ich vermute, der Großteil ist noch nicht mal zwanzig. Könnte doch sein, dass eines ihrer Gesichter bei mir hängengeblieben ist. Ich sehe immerhin viele der Frauen mehr als einmal die Woche. Gedanklich gehe ich jede einzeln durch, finde aber keine Übereinstimmung. Möglich, dass mein Kopf sich jeweils die schönsten Teile ihrer Gesichter zusammengesponnen hat. Die perfekte Schönheit konstruiert hat. Ich beschließe, mir beim nächsten Einkauf die Gesichter derer, die anwesend sein werden, genauer einzuprägen und eine Checkliste zu erstellen. Damit ich wieder meine Ruhe habe.
Vollkommen ausgelaugt sinke ich in meine Kissen, ziehe die Decke bis über meine Brust und versuche zu schlafen. Früher hatte ich die Angewohnheit, mir die Decke bis zum Kinn zu ziehen. Aber seit mich der Typ quasi mit seinem Körper zerquetscht hat, bekomme ich irgendwann klaustrophobische Panikattacken. Dann strample und winde ich mich, bis ich mich komplett verheddere. Was es nur noch schlimmer macht. Also liegt die Decke nun locker auf der Brust, und ich bin darauf bedacht, dass die Arme darüber sind. Das zwingt mich zwar dazu, die Heizung laufen zu lassen, aber lieber höhere Stromkosten als Angstzustände. Nachdem ich endlich die perfekte Schlafposition gefunden habe – auf dem Rücken und kerzengerade –, gehe ich meinem Einschlafritual nach.
Ich arbeite gedanklich an meiner Geschichte. Was der nächste Schritt sein könnte zum Beispiel. Das ist, als würde ich mir meine eigene Gute-Nacht-Geschichte erzählen. Und da alles, worüber man während der Einschlafphase nachdenkt, im Langzeitgedächtnis landet, ist es noch nicht mal umsonst. Das hat mir damals unser Mathelehrer in der elften Klasse eingetrichtert. Weil das Hirn danach nicht mehr abgelenkt wird. Keine anderweitigen Infos mehr erhält. Er hat uns empfohlen, Formeln und so einen mathematischen Firlefanz immer noch einmal vor dem Schlafen durchzulesen. Hat bei mir nur mäßig funktioniert. Was aber eher daran lag, dass mich der ganze Zahlenquatsch nicht interessiert hat. Ich war so oder so grottenschlecht darin, aus Ziffern, Brüchen und Gleichungen irgendeinen Sinn zu ziehen. Deshalb hat mein Hirn, sobald nur ein x nach einer Zahl kam, sofort eine Vollsperre eingelegt.
Ich bin nun mal der Learning-by-doing-Typ, der mit Worten besser umgehen kann als mit Zahlen. Aber auch nur beim Geschriebenen. In puncto Konversation bin ich nämlich auch nicht unbedingt die große Leuchte. Womöglich war ich deshalb immer ein Einzelgänger. Nicht, dass ich es nicht versucht hätte. Es hat halt einfach nie geklappt. Nie habe ich das Richtige gesagt. Immer war ich irgendwie anderer Meinung als die anderen. Ich bin einfach überall angeeckt. Ich schätze, deswegen bekomme ich das mit Manuel so gut hin. Wir sagen beide kaum etwas. Lauschen der Atmung des jeweils anderen, bis wir uns voneinander verabschieden. Und wenn wir so was wie ein Gespräch führen, dann auch ein eher wortkarges. Das Richtige sagen fällt dabei nicht sonderlich schwer. Oh Mann! Wenn ich genau darüber nachdenke, war ich auch davor, also ohne Narbe, ein psychisches Mysterium. Am besten, ich lasse das mit dem Über-mich-selbst-Nachdenken und konzentriere mich auf mein Buch. Bevor mein Selbstbewusstsein noch tiefer rutscht.
Irgendwann, als ich schon kurz vorm Ende bin, schaffe ich es endlich in den Schlafmodus.

Der nächste Morgen bricht standardmäßig brutal an. Kopfschmerzen, die meinen Schädel zu spalten drohen, die damit verbundene Übelkeit und die Nachwirkungen meiner schrägen Träume. Also wenn das wirklich eine Art Verarbeitung des Traumas ist, wie der Neurologe und auch der Psychologe im Krankenhaus behauptet haben, dann sollte mein Hirn damit aufhören. Scheiß auf die Verarbeitung. Ich bin doch eh schon kaputt. Die Träume müssen da echt nicht jedes Mal dazu beitragen. Wie ferngesteuert gehe ich meinem Morgenritual nach. Ich greife ins Nachtkästchen, um mir die stärksten Schmerztabletten hinter die Binde zu kippen, ertränke meinen Magen in einem Liter Wasser, schleppe mich ins Bad, um mir den Schlaf aus dem Gesicht zu waschen und die Zähne zu putzen, tappe in die Küche, um mir meine Ration Kaffee zu kochen und schlurfe mit der heißen Tasse zwischen den Händen auf die hintere Veranda, um meine Lungen mit Frischluft zu füllen. Damit unterdrücke ich die Übelkeit, bis die Tablette wirkt und die Kopfschmerzen so weit minimiert, dass ich wenigstens nicht mit einem zweigeteilten Hirn durch den Tag dümpeln muss.
Plötzlich geht die Tür neben meiner auf. Eine Frau in weißer Shorts und blauem T-Shirt betritt mit einer dampfenden Tasse und unordentlich zusammengebundenen Haaren die Veranda. Die Frau ist echt heiß, soweit ich das erkennen kann. Sie sieht mich nicht, denn sie starrt in ihre Tasse. Ich sollte mich wohl lieber verziehen, bevor sie mich entdeckt. Nicht, dass ich sie in aller Herrgottsfrüh noch zu Tode erschrecke. Langsam gehe ich rückwärts, darauf bedacht, keinen Ton von mir zu geben. Leider geht der Plan nach hinten los, denn ich trete auf die einzige knarzende Diele der ganzen Veranda. Na super. War ja klar. Mein Schicksal scheint mich echt zu hassen. Erschrocken zuckt die Frau zusammen. Sie hebt den Blick. Ihre Augen weiten sich. Und mir fällt schockiert die Tasse aus der Hand. Laut zerscheppert sie auf dem Holzboden. Das darf jetzt nicht wahr sein! Und dann fällt mir ein, wer die Frau in meinem Traum war. Nämlich die, die mich seit vier Jahren nonstop verfolgt!

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