Prolog

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Die Gegenwart
Ich wünschte mir, die Sonnenstrahlen könnten meine Eingeweide wärmen. Am liebsten würde ich meine Finger in meinen Bauch graben, daran ziehen und das Fleisch entzweien, sodass die Wärme der Sonne bis in mein Innerstes dringen kann. Ich wünschte mir, ich könnte Wärme atmen.
Ich halte den Stift fest umklammert, als wäre er mein Anker. Ich will etwas auf das leere Blatt schreiben, das sich in meiner anderen Hand in der leichten Meeresbrise wiegt, doch ich weiß nicht mehr, was ich schreiben wollte.
Irgendwo in der Ferne schlägt der Rumpf eines Anglerbootes gegen den Steg, und Wasser schwappt an den Strand. Ich kann es hören, ganz deutlich. Es klingt, als würde die Welt eine Melodie für mich spielen. Doch das darf sie noch nicht; nicht jetzt. Ich muss schreiben.
Der grasbewachsene Hang und das türkisblaue Meer dahinter sehen so idyllisch aus, dass es mir wehtut. Vielleicht verdiene ich das alles nicht. Vielleicht verdiene ich keine Schönheit, keine eigene Melodie. Vielleicht verdiene ich es auch nicht, den letzten Punkt auf meiner Liste abzuhaken.
Ich spüre, wie sich die Spitze des Stiftes auf das Blatt senkt und wie von selbst zu schreiben beginnt, umgeben von der Musik dieses Ortes, die mit jedem weiteren Wort anschwillt. Buchstaben schwärzen die Zeilen, meine Ohren dröhnen, und mein Kopf wird ganz taub.
Ich setze den Stift ab, und es ist still. So still, dass die Schritte, die sich mir im weichen Gras nähern, ohrenbetäubend laut wirken. Ich umklammere das Blatt, mit letzter Kraft, während mich Erleichterung durchschwemmt.
Ich habe es geschafft.
Eine Hand legt sich auf meine Schulter, und die Wärme, die von ihr ausgeht, lässt mir die Tränen in die Augen steigen. Sie ist wunderbar warm, und ich bin so kalt. So kalt wie die Gischt, die sich am Strand aufbauscht und wie schimmernder Tüll die blauen Wellen ziert.
»Jess.« Mein Name hallt traurig in der Schweigsamkeit der Natur; die Laute verzerren sich im endlosen Echo.
Ich schüttele den Kopf. Nein. Nein, so will ich ihn nicht hören – so klingt mein Name, als wäre das hier ein Abschied.
Die Hand greift nach meinem Blatt, doch ich zucke zurück und drücke es schützend gegen meinen Oberkörper. Ich muss es behalten, auch wenn es wehtut.
»Noch nicht«, höre ich meine Stimme wie das Krächzen eines Raben. »Noch nicht, noch nicht, noch nicht.« Lass es mich festhalten, will ich ihm sagen, nur für einen kurzen Augenblick.
Die Antwort klingt hart und weich zugleich: »Lass los.«
Nur noch einen Augenblick ...

Club der letzten Wünsche *LESEPROBE*Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt