Melissa saß mitten auf ihrem Bett. Die Kuscheldecke hing halb auf dem Boden, halb um sie geschlungen. Ihre blonden Zöpfe wirkten zerzaust und standen wirr ab, als hätte sie sich schon mehrfach unruhig hin und her gewälzt.
Neben ihr lag Macy, die vorgab zu schlafen, während ihre Finger heimlich mit der Taschenlampe unter der Decke spielten. Jedes Mal, wenn Melissa hinsah, schnippte Macy hastig den Schalter aus und hielt den Atem an.
Luis, Macys großer Bruder, lag auf der Matratze am Boden, die Arme hinter dem Kopf verschränkt, die Augenbrauen skeptisch hochgezogen. Er duldete die Übernachtungsparty in seinem Zimmer nur, weil seine Mutter es so wollte.
„Ich kann's kaum erwarten, euer Gekicher die ganze Nacht zu hören", murmelte er und presste sich ein Kissen auf die Ohren.
Macy kicherte, Melissa verdrehte die Augen.
Da öffnete sich die Tür leise. Susi steckte den Kopf herein, zog die Vorhänge zu, und das Nachtlicht warf einen goldenen Kreis an die Wand, in dem die Schatten wie kleine, flüsternde Geister tanzten.
„Es ist spät, ihr zwei", sagte sie sanft. „Wenn ihr morgen wieder müde seid, gibt's keine Übernachtungspartys mehr."
„Aber Mamaaa!", protestierte Macy. „Ich bin gar nicht müde! Und Melissa auch nicht!"
Melissa grummelte. „Ich schon ... aber vielleicht könnte ich noch eine Geschichte hören."
Luis stöhnte gespielt. „Na wunderbar. Noch länger wach bleiben. Klingt nach einem Plan."
Susi seufzte und setzte sich an die Bettkante. Ihr Blick wurde weich.
„Na gut. Eine letzte Geschichte."
Sie ließ eine kleine Pause, als würde sie lauschen, ob das Haus still genug war.
„Was wollt ihr hören?"
„Etwas, das es noch nie gab!", rief Macy. „Etwas Gruseliges! Mit einem Prinzen! Und Magie! Und einem Geheimnis!"
Melissa zog die Decke bis zur Nase. „Aber bitte ohne verliebten Prinzen. Das ist immer so kitschig."
Susi lächelte. Doch in ihrem Blick lag etwas Nachdenkliches.
„Dann erzähle ich euch etwas, das nur nachts erzählt werden darf ... die Geschichte vom Gott des Todes."
Macy hielt den Atem an. Melissa spürte, wie eine Gänsehaut ihre Arme hinaufkroch.
Susi begann mit leiser Stimme:
Es war einmal ein Königreich, verborgen hinter endlosen Schneefeldern und Eisbergen, so hoch, dass selbst der Himmel sich beugen musste, um darüber hinwegzusehen.
Man nannte es Glacies.
Dort herrschte ein König, stolz und unerbittlich, dessen Herz im Laufe der Jahre hart geworden war wie der Frost, der über seine Lande herrschte. Er hatte zwei Söhne. Zwillinge, geboren in derselben Nacht, zur selben Stunde. Doch nur einer von ihnen sollte eines Tages König werden.
Der ältere hieß Antonius, er war still, von seltener Schönheit, mit Augen so klar wie Schnee im Morgenlicht. Weisheit lag darin, die zugleich wärmte und fror. Doch sein Körper war schwach. Jeder Atemzug kostete ihn Kraft, jeder Schritt forderte ihn heraus, als lehnte sich die Welt selbst gegen ihn.
Der jüngere Bruder, Valerius, war sein Gegenteil. Stark, laut, lebendig. Sein Lachen konnte selbst die stillen Hallen des Eispalastes beleben. Er trug die Sonne im Herzen und trieb jede Dunkelheit zurück.
Doch eines Nachts, als die Zwillinge noch klein waren, standen die Götter selbst vor dem König.
Ihr Angebot war kalt wie Eis und verführerisch wie Macht:
„Gib uns deinen Erstgeborenen," sprachen sie,
„und wir schenken dir die Gabe des Todes, die Macht, über den Übergang des Todes zu wachen."
Der König, der nur nach Stärke und Herrschaft strebte, zögerte nicht.
Antonius, der schwache Erstgeborene, wurde den Göttern überlassen. Nicht im Körper, denn sie nahmen nicht Fleisch, sondern im Schicksal. Sein Leben banden sie an einen Faden, der dünner war als jeder anderer.
Ein Herz, das niemals kräftig schlagen sollte. Er wurde immer kränker.
Der König erhielt die Gabe.
Doch die Gabe, die er so gierig verlangt hatte, wurde zu seinem Fluch.
Denn mit jedem Herzschlag seines erstgeborenen Sohnes, schwach, flackernd, sterbend, wuchs die Schuld in ihm, fraß sein Denken, verzerrte seinen Geist.
Bis Wahnsinn die Krone erreichte.
Darum verbannte er alles, was ihn an seinen sterbenden Erstgeborenen erinnerte. Auch Antonius selbst.
Er ließ ihn in den verbotenen Flügel des Schlosses bringen.
Dorthin, wo niemand lebte.
Und wo niemand lange überlebte.
Valerius dagegen erklärte er zum Prinzen und Erben.
„Ein Herrscher braucht Kraft", sprach der König.
„Und du wirst stärker sein als jeder vor dir."
„Was passierte dann?", flüsterte Macy.
Melissa zog die Decke enger um sich. „Der arme Antonius ..."
Susi nickte.
„Antonius blieb allein. Mit jedem Tag wurde sein Körper schwächer, die Götter hatten ihren Preis eingefordert. Und eines Morgens, noch ehe der erste Sonnenstrahl über die Eisberge kroch, erlag er seinem eigenen zerbrechlichen Herzen."
„Und Valerius?", fragte Luis.
Susi richtete sich ein wenig auf.
„Valerius liebte seinen Bruder. Heimlich schlich er sich oft zu ihm, sprach mit ihm, tröstete ihn. Und als Antonius starb, zerbrach etwas in ihm.
Doch keine göttliche Gabe ging auf ihn über, die blieb beim König, wie es die Götter bestimmt hatten.
Der König bekam einen Namen: den Gott des Todes."
Luis schluckte. „Und blieb Valerius jetzt allein?"
Susi sah zum flackernden Nachtlicht.
„Man sagt, Valerius verließ nie den verbotenen Flügel, den Ort, an dem sein Bruder starb.
Doch wenn man in stillen Nächten lauscht, hört man das kichern von zwei kleinen Kindern."
Denn Antonius, der den Göttern geopfert wurde,
verließ seinen Bruder nie."
Das Zimmer lag still.
Nur der Wind kratzte leise am Fenster, als wolle er zuhören.
Die Mädchen kuschelten sich enger zusammen.
Das Nachtlicht warf seinen goldenen Kreis an die Wand
und für einen Atemzug schien darin ein Schatten zu flackern,
der keiner war.
Dann war alles still.
Nur die Geschichte blieb.
Wie ein Flüstern im Schnee.
YOU ARE READING
𝗦𝘆𝗿𝗶𝗻𝗴𝗲 - 𝗗𝘂 𝗴𝗲𝗵𝘀𝘁 𝗼𝗵𝗻𝗲 𝗺𝗶𝗰𝗵
Science FictionEin tödlicher Virus bedroht die Menschheit, und die junge Ärztin Macy kämpft verzweifelt um jedes Leben. Nach dem gewaltsamen Tod ihrer besten Freundin begleitet sie ihren Bruder in ein abgelegenes Institut in der Antarktis, den streng gesicherten H...
