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Wo bist du gerade?

Zu Hause im Bett? In den Armen der Person, die du liebst?

Wenn ja, dann halte sie fest und einen Moment inne. Halte diese Person fest und schaue sie an, mustere ihr Gesicht.

Du liebst diese Person, nicht wahr? Mit jeder Faser deines Körpers, du würdest für diese Person durch das Feuer gehen und wieder zurück, immer wieder.

Wann hast du dieser Person das letzte Mal Ich liebe dich gesagt? Wann hast du ihr gesagt, was sie dir bedeutet?

Gestern? Heute? Vor langer Zeit? Nie? 

Es gibt so viele Arten Ich liebe dich zu sagen. Wie oft hast du das zu deiner Mutter, deinem Vater, deinen Geschwistern gesagt?

Ein einfaches Ich hab dich lieb?

Wie oft hat dir deine Mutter gesagt Pass auf dich auf, Sei vorsichtig, oder fahr langsam? Wie oft hat sie dir so kleine Mitteilungen mit auf den Weg gegeben und wie oft hast du gesagt jaja? Wie oft hast du sie abgewimmelt und bist schulterzuckend und augenverdrehend gegangen? Wie oft hast du diese Art und Weise von Liebesbekundung ignoriert, wie oft hast du nicht verstanden, dass dieses viel Glück so viel mehr ist? 

Viel zu oft, nicht wahr?

Stell dir vor, alles wäre anders gekommen, stell dir vor, es wäre ein regnerischer Abend gewesen, ein Abend wie jeder andere. Du warst auf den Weg zur Geburtstagsparty deiner besten Freundin und bist eine hügelige, kurvige Straße mit deinem alten VW hinunter gefahren.

Du freust dich auf den Alkohol, auf die Freunde, die du treffen wirst, auf das Feiern und den Bass, der in deinen Ohren hämmern wird. Du freust dich auf das Tanzen, die Musik und hast extra dein neues Kleid angezogen, für das du schon ein Kompliment von dem Jungen bekommen hast, den du heimlich liebst. Meine Scheiße, du freust dich so sehr auf den Abend, nicht wahr?

Stell dir vor, im Radio spielt dein Lieblingslied und du singst lauthals mit, lauthals und falsch, doch es ist dir egal, denn hier in der Pampa, an diesem regnerischen Abend, da hört dich niemand singen, nicht wahr? Du bist alleine im Wagen, um dich herum nur Dunkelheit und Regen. Die Scheinwerfer deines Autos erfassen etwas und erschrocken bremst du und verreißt das Lenkrad. Du siehst die weit geöffneten Augen des Rehs, dem du ausgewichen bist und dann plötzlich schwebst du für einen Moment.

Stell dir vor, das Auto überschlägt sich, du mitten drinnen, kein Laut der über deine Lippen kommt, dann der Schrei von Metall und dann schließlich die alles zerreißende Stille. Du fällst und auf einmal nicht mehr, dann der harte Aufprall und der Airbag, der die Luft aus deinen Lungen drückt. Es geht so schnell, so verdammt schnell, nicht wahr? Schmerzhaft hat sich der Sicherheitsgurt in deine Rippen gebohrt und zögernd holst du Luft, du glaubst kaum, dass du wirklich noch lebst und doch, doch sitzt du hier, hast keine Ahnung wo oben und unten ist, deine Haare hängen Richtung Boden und du realisierst mit einem Mal, dass das Auto auf dem Dach gelandet ist, die Scheiben zerbrochen und die Glassplitter haben sich in deine Hand gebohrt.

Dein Herz pocht laut in deiner Brust, dein Atem geht stoßend und dann, als die Stille um dich herum beinahe ohrenbetäubend wird, ja, dann spürst du es. Du spürst den atemberaubenden Schmerz, du spürst das Blut auf deiner Stirn, stell dir das vor. Mit zitternden Fingern greifst du hinunter zu deiner Brust und als du deine Finger in der Dunkelheit siehst und sie vom Blitz erhellt werden, siehst du das beinahe schwarze Blut und mit einem Mal verstehst du, du bist verletzt. Scherben in deinen Händen, etwas steckt in deiner Brust und all' das Blut, das nicht aufhört zu fließen. Das Adrenalin dämpft den Schmerz und du fühlst dich schwerelos in deiner eigenen, kleinen Seifenblase, die jeden Moment platzen kann. 

Was machst du jetzt?

Rein aus Instinkt schreist du nach Hilfe, aber niemand hört dich. Es regnet, doch niemand verlässt um diese Uhrzeit das Haus, du bist alleine und weißt, dass du langsam verbluten wirst, du wirst an diesem Unfallort sterben. Werden dich deine Freunde vermissen auf der Party? Du hast deinen Eltern versprochen eine Nachricht zu schreiben, wenn du gut angekommen bist und du weißt, dass das niemals geschehen wird, mit einem Mal verstehst du, akzeptierst du, dass du in diesem Wagen verbluten wirst.

An was denkst du mit diesem Wissen? Denkst du an deine Familie, an die, die du liebst? Wie werden sie mit deinem Tod umgehen, wie werden sie weiterleben können? Wer wird zerbrechen und wer wird stark sein? Werden sie denn stark sein? Werden deine Mum und dein Dad den Tod ihres einzigen Kindes, ihres fast erwachsenen Kindes überleben? Es wird einen Teil ihrer Seele zerstören. Sie haben dich aufwachsen gesehen, sie haben dir das Lesen beigebracht, dich auf deinem ganzen Lebensweg begleitet.

Deine Mutter hat dir noch gesagt, dass du aufpassen und lieber einen Abend auf das Feiern verzichten sollst, doch du wolltest nicht. Du wolltest ihn, diesen Jungen, beeindrucken, wolltest dazugehören.

Und jetzt bist du hier, in Blut gekleidet, deine Hände zittern und die Tränen laufen dir über die Wangen, während du schwächer wirst. Der Schmerz und die Angst verschwinden.
Du akzeptierst es, doch tut der Verlust, der Menschen, die du hinterlassen wirst, mehr weh, nicht wahr? Du wirst sie nie wieder sehen, nie wieder die Lachfalten deines Vaters in seinen Augenwinkel, nie wieder die vertrauten braunen Augen deiner Mutter sehen, nie wieder.

Langsam schließt du die Augen und das letzte, an das du denkst sind sie, du glaubst du stirbst, du spürst wie dein Herz langsamer schlägt, und plötzlich hörst du eine Stimme.

Sind sie verletzt? Hören Sie mich?, fragt sie, eine männliche, tiefe Stimme. Ich habe einen Krankenwagen gerufen, Sie müssen durchhalten, haben Sie verstanden? Alles wird gut.

Wird denn alles gut? Kannst du so lange durchhalten? Kannst du an dem irdischen Schmerz festhalten? Willst du es denn? In diesem Moment liegt die Entscheidung bei dir. Was wirst du tun? Willst du mit dem Schmerz des Lebens leben, oder mit dem Schmerz, den du deinen Liebsten verursachsen wirst? 

Und mit diesem Wissen ist es den Schmerz wert, mit diesem Wissen, welchen Schmerz du hinterlassen wirst, ist die Entscheidung so einfach, nicht wahr? Du liebst sie und du willst deine Eltern alt werden sehen, willst Seite an Seite mit ihnen weitergehen, mit ihnen und mit deinen Freunden. Du willst lieben und verdammt, du willst den ersten Liebesschmerz kennenlernen, du willst leben, nicht wahr? Und deswegen ist die Entscheidung, die vor kurzem noch so schwer war, so einfach, oder?

Wo bist du gerade?

Zu Hause im Bett? In den Armen der Person, die du liebst?

Wenn ja, dann halte sie fest und einen Moment inne. Halte diese Person fest und schaue sie an, mustere ihr Gesicht, schau ihnen ins Gesicht und sag vier Wörter, vier so leichte Wörter, die eigentlich selbstverständlich sein müssten.

Sag es, sprich mir nach, schnell bevor es zu spät ist. Tu mir den Gefallen, denn er wird dich nicht umbringen, sag es, obwohl sie es wissen, sag es, sprich mir nach, noch ist es nicht zu spät.

Ich hab dich lieb. 

The Very Last Thing [One Shot]Where stories live. Discover now