Einfach weg.

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SOMMER 2000

Gedankenverloren strich ich dem kleinen Mädchen durch die Haare, während sie seelenruhig in meinen Armen schlief.

Ihr Kopf ruhte auf meiner Brust, während ich ihrem ruhigen Atem lauschte. Immer, wenn ich ihr zuhörte, konnte ich fast selbst einschlafen.

Doch als Geist konnte man das nicht. Sämtliche menschliche Aktivitäten konnte man nicht mehr machen. Essen, trinken, schlafen ... selbst die Toilette benutzen.

Raven kuschelte sich etwas enger an mich und ich hielt in der Bewegung inne, um sicherzustellen, dass sie noch schlief. In weniger als 3 Stunden würde sie wach werden, denn die Sonne war schon seit einer Stunde aufgegangen.

Ein mulmiges Gefühl lag mir im Magen und ich konnte mir nicht erklären, wieso und weshalb. Mal abgesehen davon wusste ich nicht, dass ich so etwas empfinden konnte. Schließlich war ich tot.

Die Zeit verging schneller als sonst und schon bald wachte Raven auf. Sie sah mich verschlafen an, während ich nur lächelte.

Immer wieder strich ich ihr über den Arm, während sie sich enger an mich kuschelte. Doch als man Schritte auf der Treppe hören konnte, schob ich sie sanft von mir und schenke ihr ein leichtes Lächeln.

»Gehst du wieder?«, fragte sie und sah mich aus ihren süßen braunen und verschlafenen Augen an. Ich schüttelte den Kopf.

»Raven-Mäuschen, ich habe dir oft gesagt, dass ich nie gehen werde«, lächelte ich und verschwand, sodass sie mich nicht mehr sah.

Verdattert sah sie mich weiter an, doch sie konnte mich nicht sehen. In diesem Moment ging die Tür auf und Ravens Mutter kam herein, um ihre Tochter zu wecken.

»Nanu, Kleines, du bist ja schon früh aus den Federn«, begrüßte sie ihre Tochter und lächelte warm. »Dein Vater wartet am Frühstückstisch auf dich, Süße. Du brauchst dich vorher auch nicht umziehen.«

Mit einem Grinsen stieg die Fünfjährige aus dem Bett und lief aus dem Zimmer. Mit einem Lächeln folgte ich ihr und beobachtete, wie sie sich an den Tisch setzte.

»Guten Morgen, mein Engel«, begrüßte ihr Vater sie. »Hast du gut geschlafen

»Ja und du?«, antwortete sie und nahm Platz. Ihr Vater stellte ihr eine Schüssel mit Cornflakes hin, die sie nur freudig in den Empfang nahm. »Danke, Daddy.«

Raven schnappte sich den Löffel und begann zu essen. Es sah so goldig aus, wie sie versuchte den großen Löffel in den Mund zu schieben, doch ihr Mund war ein bisschen zu klein.

»Nichts zu danken, Engelchen. Ich habe auch gut geschlafen, danke der Nachfrage«, meinte ihr Vater und begann sich ein Brot zu machen. »Nach dem Frühstück darfst du gerne draußen spielen gehen

»Ja?«, fragte Raven mit diesem simplen Wort nach und schaute ihn mit großen Augen an. Er nickte.

Ich wusste, dass sie sich freute, weil sie immer mit mir, wenn sie draußen war, spielte. Sie wusste, ich würde draußen sein, wenn sie kam.

Schnell aß sie auf und fragte mit leuchtenden Augen, ob sie jetzt rausgehen durfte. Ihr Vater bejahte die Frage. Es war merkwürdig, dass er sie in Schlafsachen nach draußen zum Spielen ließ.

Allgemein war es komisch, dass ihre Mutter am Frühstückstisch fehlte. Es hieß sonst immer, dass erst angefangen wird zu essen, wenn jeder am Tisch saß.

Raven stand vom Tisch auf und rannte nach draußen. Ich folgte ihr einfach und stellte mich neben sie, als sie sich gerade suchend umsah. Als sie mich erblickte, leuchteten ihre Augen auf und sie umarmte meine Beine.

Lachend ging ich in die Hocke, sodass sie mich loslassen musste, und nahm sie dann in den Arm, was sie sofort erwiderte.

»Ich habe dich lieb«, vernahm ich ihre süße Stimme und löste mich deswegen ein bisschen, um sie ansehen zu können. »Du mich auch?«

»Und wie ich dich lieb habe«, antwortete ich ihr und knuddelte sie, was sie zum kichern brachte.

»Lass uns in den Wald gehen«, schlug sie vor. So wie sie mich ansah, konnte ich ihren Vorschlag nicht abschlagen.

Also gingen wir gemeinsam weiter in den Wald rein. Da sie barfuß war, nahm ich sie auf den Arm und ging mit ihr durch Bäume und Büsche.

Hin und wieder entdeckte sie einen Vogel und einmal sahen wir auch ein Eichhörnchen, was sie ganz süß fand. Doch das Eichhörnchen verschwand schnell wieder, als es mitbekam, dass wir da waren.

Auch ein Reh war zu sehen und wir beobachteten es eine Weile. Raven war komplett still geworden, als sie es sah. Völlig fasziniert betrachtete sie das Tier und schien zu wissen, dass sie keinen Mucks sagen sollte, wenn sie es weiter betrachten wollte.

»Raven!«, hörte ich Ravens Mutter nach ihr rufen und die Fünfjährige sah mich leicht erschrocken an.

Ich dagegen setzte sie auf den Boden ab und sagte lächelnd: »Lauf zurück, ich komme nach. Pass aber auf, wohin du läufst, nicht, dass du dich verletzt!«

»Okay«, sagte sie lächelnd und sah zu mir hoch. Langsam ging ich in die Hocke und sie gab mir einen Kuss auf die Wange. »Bis gleich.«

»Bis gleich«, lächelte ich und schickte sie endlich weg, damit sie schnellstens nach Hause kam. Ihre Eltern sollten sie nicht suchen, geschweige denn sich Sorgen machen.

Sie lief durch die ganzen Büsche und verschwand zwischen den Bäumen. Ich richtete mich wieder auf und ging langsam den Weg zurück, während ich an das einzigartige, süße Kind dachte.

Selbst ich hatte kleine Geschwister. Bedauerlicherweise konnte ich sie nicht aufwachsen sehen.

Meine Gedanken wurden unterbrochen, als ich das Starten eines Motors hörte. Sofort richtete ich meinen Blick nach vorne und erkannte nur noch, wie das Auto weg fuhr.

Mit gerunzelter Stirn sah ich hinterher und schüttelte den Kopf, ehe ich ins Haus ging und mich umsah. Irgendetwas schien anders zu sein.

Mein Gehirn ratterte und stellte die absurdesten Theorien auf, dennoch musste ich nachsehen, ob irgendetwas anders war.

Ich verschwand nach oben und besah mir jeden Raum. Wertvolle Gegenstände waren weg, die Schränke waren leer.

Es gab kein Anzeichen dafür, dass hier jemand lebte. Sie waren einfach gefahren.

Ohne, dass sie sich verabschiedeten.

Von den einen auf den anderen Moment war einfach die komplette Familie weg.

Aber was mir am meisten weh tat, war, dass Raven weg war und ich wusste, dass ich sie nicht wiedersehen würde.

DemonWo Geschichten leben. Entdecke jetzt