Im Auge des Sturms I

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Graue Sturmwolken schoben sich vor die Sonne. Augenblicklich verschwand das Paradies wie ein Spuk, und sie stürzten in die Hölle.

Der Sturm brach los. Er pfiff um die Wanten, trieb heulend das Schiff vor sich her, als spielte eine Katze mit der Maus. Die Wasseroberfläche verwandelte sich in ein Gekräusel, Welle um Welle wogte heran, sie stapelten sich übereinander, wuchsen. Plötzlich befand sich die Zeelandia in der gefährlichsten Lage: sie war mit der Breitseite den Wellen ausgesetzt und drohte jeden Augenblick zu kentern!

Unter dem brüllenden Orkan und der donnernden See erscholl Thorssons Stimme: »Klar zur Wende!« Er stand mit Bakker am Heck, während der Rudergänger das Schiff nach seinen Anweisungen steuerte.

»Hopp, Kerls, bewegt euren Arsch!!«, brüllte Cornelis.

Die Seeleute spurten wie ein einziger Mann, bildeten eine Kette, packten die Tauenden und zogen wie die Teufel. »Haul, haul!«, schrien sie gegen den Sturm an. Das Schiff gehorchte, machte einen gewaltigen Satz und warf sich herum, brachte den Bug schräg zu den Wellen und damit außer Gefahr. Im günstigen Halbwindkurs nahm es Fahrt auf, tanzte über die Wellen und war dabei, der Sturmzone zu entkommen.

Doch damit hatten sie die Elemente erst recht herausgefordert.

Das Sturmgeheul steigerte sich zu einem infernalischen Kreischen, die Seen bauten sich zu mächtigen Wasserwänden auf. Die Gischt der Schaumkronen wirbelte durch die Luft.

Die Steuerleute verständigten sich ausschließlich durch Zeichen untereinander, denn jedes gesprochene Wort wurde sogleich vom Wind verschluckt. Todesmutig enterten die Toppgasten hinauf und holten sämtliche Segel bis auf das kleine dreieckige Sturmsegel ein. Nun ragten die nackten Masten wie kahle Skelette in den Himmel. Das Schlingern des Schiffes hörte auf; der Wind traf nur noch auf den Rumpf, trotzdem trieben die heftigen Böen das Schiff voran.

Aufs Neue bahnte sich die Zeelandia ihren Weg durch schäumende Gischtberge und tiefe Wasserschluchten, eilte geradezu auf den Wellenkämmen dahin. Abwechselnd zeigte das Bugspriet gen Himmel oder in den brodelnden Abgrund. Nur fort, dem Sturm entfliehen!

Lorenas Augen brannten vom Salzwasser, es war überall. Der Wind drückte ihr die Nase zu, sodass sie ständig nach Luft schnappen musste. Schritt für Schritt hatte sie sich an den Rettungsleinen bis zum Großmast durchgekämpft, wo sie sich zwischen Rix und Ove festgebunden hatte. Janko und Roluf waren achtern am Gangspill angeleint und befanden sich vor ihr in Sichtweite. Sjard sah sie nirgends, und Gerrit hielt sich vermutlich im Kanonendeck auf, um zu verhindern, dass sich die Geschütze nicht selbständig machten. Mittlerweile schien jeder Matrose eine sichere Zuflucht gefunden zu haben; wer sich nicht spätestens jetzt irgendwo angeseilt hatte, wurde über Bord geweht. Ohne das rettende Tau war man an Deck verloren. Sie lehnte sich an den Mast. Nun konnte sie sich nur noch in ihr Schicksal ergeben, ausharren und hoffen.

Umschlossen von Wasserwänden, ging es in rasender Fahrt hinauf und hinunter; nur, wenn sie sich auf einem Wellenkamm befanden, konnten sie einen Blick hinaus erhaschen - auf weitere Wellenberge und am Himmel jagende Wolken. Die Planken ächzten und knarrten, als wollten sie auseinanderbrechen. Unglaublich, was das arme Schiff aushalten musste!

Es schien dem Wind nicht zu passen, wie ihm die Beute enteilte, und wütete umso heftiger. Er erzeugte furchterregende Geräusche - von einem Kreischen über Schreien bis hin zu einem tiefen Orgeln, wobei die Windstärke mit jedem Ton zunahm. Bald entfesselte er seine ganze Wucht und peitschte das Meer weiter auf. Die Seen wallten vor und zurück, versetzten dem Schiff mächtige Schläge und donnerten gegen den Rumpf, als wollten sie es zermalmen. Die Masten bogen sich bedrohlich. Der Bug stieg über die Wogen, fiel wieder herab, stieg ... fiel ... Brecher um Brecher überfluteten das Deck und rissen alles mit sich, was nicht fest vertäut war. In Fontänen strömte das Wasser von beiden Seiten durch die Speigatten ab. Aus allen Richtungen schoben sich die Wogen zusammen und türmten sich zu Bergen auf. Die flacheren Wellen erwiesen sich als besonders tückisch und gefährlich: sie brachen leichter und sorgten für eine wahre Flut. Irgendwann würde eine Luke dem beständigen Druck nachgeben und sich die Wassermassen ihren Weg über den Niedergang ins Innere des Schiffes bahnen. Solche Mengen würden die Pumpen niemals bewältigen können. Die Zeelandia taumelte bereits und schaffte es nicht mehr, die Wogen zu erklimmen, sondern kämpfte sich nur noch durch die Wasserwände.

In dem dichten Wirbel aus Wasser und Schaum nahm Lorena nichts mehr wahr, bis auf die schemenhafte Gestalt von Ove. Wo war oben und unten? Alte Erinnerungen blitzten auf - es war wie damals, als sie, an den Mast gefesselt und in die tobende See geworfen, ganz allein dem Wüten der Elemente preisgegeben war. Gespenstisch, wie sich die Vergangenheit wiederholte! Diesmal aber war sie nicht allein, ein Trost. Und wie damals schrie sie die Wellen an. Es tat gut, zu schreien.

Als hätte das Meer sie gehört, trat eine Pause ein; die Wellen folgten nicht mehr so rasch aufeinander. Die Abstände zwischen ihnen vergrößerten sich, so gewann die Zeelandia ausreichend Seeraum zurück, um die halsbrecherische Fahrt wiederaufzunehmen. Von neuem erklomm sie Welle um Welle, stampfte durch die aufgewühlte See -

... und lag plötzlich auf der Seite, getroffen von einer haushohen Welle, die mit der Wucht einer Lawine wie aus dem Nichts gekommen war. Die Masten in kochende Gischt getaucht, das Deck senkrecht in die Luft ragend, verharrte das Schiff sekundenlang ...

... dann wuchs auf der anderen Seite eine weitere Welle heran, richtete es wieder auf, nahm es auf den Buckel wie ein riesiger Wal und ließ es auf der Rückseite heruntergleiten.

Lorena und ihre Leidensgenossen starrten sich sowohl entsetzt als auch tief erstaunt an. Sie verstanden sich ohne Worte. Durch einen glücklichen Zufall hatte die zweite Welle den Untergang noch rechtzeitig verhindert! Doch zugleich teilten sie eine düstere Gewissheit: Es war lediglich ein Aufschub, eine Frage der Zeit. Das Schiff war ihre Burg, und sie die Verteidiger, die sich verzweifelt gegen den feindlichen Ansturm der Wellen wehrten. Sie konnten nicht mehr lange standhalten. Die Hoffnung, zu überleben, schwand mit jeder Minute. Wann kam der vernichtende Schlag?

Ove sah ihn als erster kommen. Er brüllte eine Warnung.

Die Blicke aller richteten sich hinaus aufs Meer. 

 

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🌊Der Stern des Meeres🌊*WattyWinner 2019*Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt