27. Kapitel | So viel hab ich noch nie geredet (Archie)

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Meistens dachte ich einfach über andere Dinge nach, während sie redeten. War doch sowieso egal, denn am Ende machte ich die Aufgaben doch wieder falsch oder nicht schnell genug oder beides. Und dann würden sie abends im Wohnzimmer sitzen und sich gegenseitig darüber ausfragen und einer von ihnen würde sowas sagen wie »Ich verstehe nicht, warum er so dumm ist.«.

In der Schule war ich einfach eine Niete. Mein einziger Vorteil war, dass ich groß und ziemlich stark war. Und wenn einer frech wurde, bekam er das zu spüren. Meine Prügeleien sorgten für Nachsitzen und mehr Aufgaben in den Plänen zu Hause und die wiederum für mehr Wut in meinem Bauch.

An meinem ersten Tag in der sechsten Klasse legte ich mich mit einem Jungen aus der Zehnten an – und brach ihm den Kiefer.
Die Standpauke zu Hause war endlos.

Aber am folgenden Morgen kam ein schmieriger Typ aus der neunten Klasse auf mich zu und meinte, er hätte einen Job für mich.

Sein Name war Alberto und mein Job war es, sein Bodyguard zu sein. Dafür brachte er mir jeden Tag Süßigkeiten, die ich mochte und zu Hause nie bekam, mit.

Alberto hatte richtig viel Geld. Kurz nach Weihnachten schenkte er mir einen Gameboy, weil er einfach zwei bekommen hatte. Damit spielte ich nachts, wenn ich wusste, dass meine Eltern schliefen, oder in den Pausen, wenn ich mit Alberto und seinen Jungs rumhing.

Außerdem konnte Alberto andere richtig gut überzeugen. Meistens ging ich mit und musste nur böse gucken, gelegentlich wollte er auch mal, dass ich jemanden schubse, aber Kiefer brechen musste ich keine.

Zu Hause blieb es bei den Plänen, der sinnlosen Nachhilfe und den vorwurfsvollen Blicken.

Wenn meine Familie am Wochenende oder abends irgendwo eingeladen war, tauschten meine Eltern zögerliche Blicke aus. Und bei diesen Grillnachmittagen oder Zusammenkünften entging mir auch nicht, dass sie den Themen, die sich um mich drehten, auswichen und schnell über etwas anderes redeten, während ich meist allein irgendwo herumsaß.

Irgendwann fragten sie auch gar nicht mehr, ob ich mitkommen wollte und ich war mindestens so froh darüber wie sie. Überhaupt redeten sie kaum noch mit mir, außer während der Nachhilfe.

Es war einfach so, als würde ich mit zwei Lehrern zusammenwohnen.

Als Alberto seinen Abschluss machte, war ich in der achten Klasse - und bis dahin war ich nur gekommen, weil er während des Schuljahres ein paar Jungs überzeugt hatte, meine Hausaufgaben zu machen. Nach der Zeugnisübergabe kam er zu mir, legte mir die Hand auf die Schulter und sagte: »Ich steige ins Business bei meinem Onkel in Philadelphia ein. Komm doch mit, Archie. Er hat auch einen Job für dich. Und da gibt's mehr als nur Schokolade und Gameboys.«

Ohne zu überlegen sagte ich zu. Ich ging nach Hause, packte ein paar Sachen, meine Zahnbürste und meinen Gameboy in einen Koffer und ging einfach.

Auf dem Küchentisch ließ ich nur einen Zettel, auf dem ich meinen Eltern mitteilte, dass ich mit Alberto ins Feriencamp fahre.

Seitdem habe ich sie nicht mehr gesehen.

Weihnachten rief ich an, mein Vater ging ans Telefon und auf mein »Frohe Weihnachten, Dad« sagte er lediglich »Danke«, Er fragte nicht, wo ich war, ob es mir gut ging oder wann ich nach Hause kommen würde. Und natürlich sagte er auch nichts darüber, dass sie mich vermissen würden.

Ich hinterließ ihm die Telefonnummer meines Handys, das ich am ersten Tag vom Boss bekommen hatte, doch bis heute haben sie mich nie angerufen.

Weder Hugo noch Gino wissen davon. Und Alberto ist gestorben.

Vor ein paar Jahren wurden er und seine beiden anderen Bodyguards, Donnie und Wayne, von einer Familie, die sich mit seiner angelegt hatte, im Spabereich eines Hotels erschossen. An dem Tag war ich nicht dabei, weil ich die praktische Prüfung für meinen Führerschein machte.

Das war übrigens die einzige Prüfung, die ich auf Anhieb hinbekommen habe. Die schriftliche Prüfung klappte erst beim dritten Mal und das auch nur, weil der Boss vorher mit dem Lehrer gesprochen hatte. Aber fahren kann ich. Richtig gut. Der Mann hat mich sogar gelobt.

All das habe ich Matteo erzählt und er hat meine Hand gestreichelt und zugehört und am Ende sagte er nur: »Danke, dass du mir das erzählt hast.«

Dabei muss ich mich bei ihm bedanken! Dafür, dass er mich nicht weggeschickt hat, obwohl ich so ein Loser bin. Dafür, dass er mir wirklich zuhört und es ihn zu interessieren scheint. Und dafür, dass er mich anscheinend wirklich mag, obwohl ich keinen Schimmer habe, wieso.

Inzwischen bin ich vor dem Wohnhaus angekommen, in dem ich mit Hugo und Gino lebe. Ich atme tief durch und ziehe meinen Schlüssel aus der Hosentasche.

Es wird höchste Zeit, dass ich ihnen sage, dass ich gehen werde.

Holy Shit | ✓Where stories live. Discover now