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Heute ist ein wirklich guter Tag. Alle sind so unbeschreiblich nett und gut gelaunt. Mir wird jegliche Arbeit abgenommen und als ich auf die 15. Etage muss, werde ich herzlichst von Marianne und Silke begrüßt, die mir sogar Muffins und Kuchen anbieten. Ich hoffe, dass solche Tage auch in der Zukunft folgen werden. Ich kann gar nicht aufhören, zu lächeln, als ich wieder aus dem Aufzug steige. Miran wartet schon an der Anmeldung auf mich. "Bist du bereit?" Und sofort fällt mein Lächeln. Ist er wahnsinnig?! Hier sind noch andere! Und sie schauen schon! "Ich ... was meinen Sie?" Mein Gesicht läuft heiß und rot an. Leidet er jetzt schon an Demenz? Oh Mann, warum machen die meisten ausgerechnet um diese Uhrzeit Pause? Miran schaut zu Narin, die beide wissend schmunzeln. Ich finde das ganz und gar nicht lustig. "Shirin", setzt Miran an, doch bevor er wieder indiskret werden kann, flüchte ich in mein Büro. Mein Herz rast. Hat er die ganzen Mitarbeiter nicht gesehen? Lässt sein Gehört nach? Mark, Rita, Doreen, Aylin, Sascha, Susi, sie alle standen da! "Shirin." Oh Gott, er klopft an meiner Tür! "Was wollen Sie?", frage ich stumpf. Sein Chefgehabe macht mich gerade wirklich stinkig. "Shirin, komm raus. Es ist alles in Ordnung." Er wird nie wieder Kaffee von mir bekommen. Wie laut redet dieser alte Mann bitte?! Ich reiße mürrisch die Tür auf. Mein Blick gleitet ungewollt zu den Kollegen und dann zu ihm. Was gibt es da bitte zu schmunzeln? "Bitte, Herr Chef", erwidere patzig.

Ich bin wirklich versucht, ihm dieses Schmunzeln aus dem Gesicht zu kratzen. Mein Augenlid zuckt schon. Meine Hickser springen unangekündigt aus meinem Mund. "Komm." "Ein wenig mehr Diskretion, Herr Azwer", entgegne ich scharf. Mir ist extrem warm seinetwegen. "Ich verzichte, Shirin." "Nur weil Sie der Chef sind, heißt es nicht, dass sie die Grenzen Ihrer Mitarbeiter –" "Sie wissen Bescheid, Shirin." Sie ... sie wissen Bescheid?! Ich schaue noch einmal in den Bereich mit all den Menschen, die mich ansehen und wieder zu meinem verrückten Mann. "Wer?" "Deine Arbeitskollegen, Shirin." Meine Ohren brennen, weil er mich wieder duzt. "Wovon?", hickse ich. Nicht, dass ich wieder etwas falsch verstehe. "Dass wir verlobt sind, Shirin. Kommst du jetzt bitte? Der Makler wartet auf uns." Dieser alte Mann spinnt doch! Ihm ist der ganze bittere Kaffee zu Kopf gestiegen! Weil ich mich nicht von der Stelle bewege, zieht mich Miran an meinen Handgelenken zu sich und ist tatsächlich so lebensmüde, dass er seinen Arm um meine Taille legt. Vor. Meinen. Arbeitskollegen. Und sie lächeln alle. Rita schmollt sogar gerührt und fährt sich verträumt durch ihre langen, dunkelblonden Haare. Das ... ich verstehe die Welt nicht mehr. Woher wissen sie das?

Ich schaue fragend zu Miran auf, der mich schon die ganze Zeit sanft anlächelt. "Du hast keine Ahnung, woher sie es wissen, nicht wahr?" Als Antwort schüttelt sich mein Kopf ganz langsam, woraufhin ich hickse. "Der Chef hat sich ganz große Sorgen um dich gemacht, Shirin. So ein Tatendrang und solche Emotionen bringt ein Mann nur an den Tag, wenn er liebt." Susis mütterlichen Worte treffen mich mitten in mein pochendes Herz. "Jetzt verstehe ich auch, weswegen er uns im Meeting damals terrorisiert hat", schmunzelt Mark, als er sich über seinen Nacken fährt. Armer Mann. Er tut mir bis heute leid deswegen. "Außerdem hatte er Tränen in den Augen ... und ich deswegen dann auch", murmelt Rita am Ende verlegen. Gott, er hat geweint? Ich schaue sprachlos zu ihm auf. Oh Gott! Miran lächelt bescheiden. "Komm, Shirin. Wir sind schon spät dran." Aber ... sie sind alle so nett zu mir. Kein Ausgrenzen? Kein Getuschel? Das kann doch nur ein Traum sein. Selbst im Aufzug, in der Lobby, wo mich einige Kollegen freundlich anlächeln und in Mirans Auto fühle ich mich perplex. Ich wurde weder ausgelacht noch hat man über mich geredet. Nein, sie sind sogar noch herzlicher. Mir steigen bei dem Fakt die Tränen auf. Miran bemerkt meine Gefühlslage und legt deswegen seine Hand auf meinen Oberschenkel. "Du bist in sicheren Händen, Shirin. Das habe ich dir versprochen." Ja, das bin ich wirklich.

Miran fährt gerade einen Waldweg auf große, weiße Tore zu, vor denen sich ein blonder Herr in schwarzem Anzug befindet. All das soll für uns sein? Ich steige mit viel mehr Elan aus dem Auto, drehe mich einmal um meine eigene Achse, um die Natur um mich herum wahrzunehmen. Die hohen Bäume, an denen Äpfel und Mirabellen wachsen. Die blühenden Blumen, selbst Lavendel! "Verzeihen Sie die Verspätung." Miran gibt dem jungen Mann die Hand. "Wir haben genug Zeit. Nicht viele können sich diese Immobilie leisten", grinst er, woraufhin er mir die Hand reicht. "Hi, ich bin Shirin." "Hallo, Shirin. Sollen wir direkt mit der Außenlandschaft beginnen?" "Bitte! Ich liebe es jetzt schon." So sehr, dass ich vor Aufregung hickse und dem netten Mann dem Pfad zum Ufer folge. Wow, Miran hat mit der Lage zum Fluss nicht gelogen. "Können hier viele hin?" "Es wäre Ihr Privatgrundstück. Niemand Unbefugtes hat es zu betreten, Shirin." Wow. Traumhaft. Ich habe sogar weißen Sand und oh Gott! Einen Steg! Ich will. Der weiße Steg in die Elbe hat mich überzeugt. Ich lächele Miran strahlend an, der mit verschränkten Armen hinter mir steht.

Auch das Haus macht mich sprachlos. Es ist die perfekte Mischung aus Tradition und toleranter Moderne. Die Decken sind hoch, die Fenster groß und mit perfekter Sicht auf den riesigen Garten und die Elbe. Säulen, oh Gott, ich habe Säulen im Badezimmer! Jemand muss mich kneifen! "Hier kann Rahul wachsen und sich um die Säulen schlingen", erzähle ich Miran von meinen Visionen. Das Bad ist weiß, doch das ist nichts, was ich nicht ändern kann. Die Badewanne wird ebenso grün, sodass die großen Säulen mit ihrer strahlend weißen Farbe den Eingang in eine entspannte Badezeit bieten. Es geht weiter ins große Schlafzimmer mit angrenzendem Ankleideraum. Mein Kopf füllt sich mit diversen Ideen und Pflanzen. Ich will. Ich will sofort einziehen. Es ist mir egal, was der Mann zu sagen hat. Miran soll sich um das Fachsimpeln kümmern. Ich kümmere mich um die Deko. Allein die Erinnerung an den orientalischen Mosaikboden im Flur und den edlen Kronleuchter und das schöne, braune Treppengeländer! Diese 400 Quadratmeter Wohnfläche werde gut füllen. "Was kostet der Spaß aber?", wende ich mich an den Makler, der mich einen Moment stumm betrachtet, bevor er seine Hände zusammenreibt. "Möchten Sie noch einmal in Ruhe alles durchgehen?" Wieso denn? Ich schaue fragend zu Miran, der mich stumm betrachtet und sich näher zu mir stellt. "Magst du es?" "Gefällt es dir?", stellt er mir die Gegenfrage. "Ich liebe es." "Dann liebe ich es auch." Mein Herz pocht ganz aufgeregt. Das ist unser zukünftiges Zuhause.

"Und was kostet es nun?", wende ich mich wieder an den blauäugigen Makler. Er scheint nur darauf zu warten, uns das Haus zu verkaufen, so, wie er mich ansieht. "Der aktuelle Preis liegt bei 14.500.000 Euro." "Ich kaufe es für 15 Millionen, wenn Sie endlich aufhören, meine Frau anzugaffen." Meine Augen weiten sich. Sowohl wegen des utopischen Preises als auf wegen Miran. Ich schaue fassungslos zu ihm auf, während er den Makler mit einem kalten Blick erdolcht. Oh Gott, der Mann wird durch Miran so rot wie Mark damals. "Also ... kaufen wir das Haus jetzt?", murmele ich überfordert. Mir gefällt die angespannte Stimmung nicht. Ich sehe sogar Mirans Brust durch die Knopfleiste schimmern, weil er so angespannt ist. Oh Gott. "Herr Azwer, Sie verstehen das falsch –" "Ich verstehe geweitete Pupillen beim Anblick meiner Frau gewiss nicht falsch", unterbricht Miran ihn gefährlich ruhig. Ich hickse schon vor lauter Nervosität. Der Mann läuft blutrot an, als er seinen Kragen lockert. Miran zieht mich auf die linke Seite, ehe er mich an dem Makler vorbeischiebt und ihm seine Visitenkarte auf sein Klemmbrett wirft. "Senden Sie die Dokumente an die Adresse", befiehlt er stumpf. Du lieber Scholli, Miran ist eifersüchtig! Er hilft mir sanft ins Auto, doch fährt dann sehr sportlich los, sodass schon die Reifen quietschen. "Vielleicht hast du es wirklich falsch verstanden." "Du warst in deiner eigenen Welt, Shirin. Ich habe es genau richtig verstanden", antwortet Miran sichtlich genervt. Oh Mann. "Vielleicht ... bekommen wir ja Rabatt." Er atmet tief ein. "Oder auch nicht", murmele ich. Mein Ziel war es, ihn zu beruhigen und keinen Herzinfarkt zu riskieren.

"Möchtest du etwas essen?" "Wir essen doch heute gemeinsam." "Etwas Kleines wenigstens." "Das habe ich Narin versprochen. Wir können ja zu dritt essen. Kann Sidar auch?" "Nicht während der Arbeitszeit. Nach Feierabend wird er dazustoßen." Das freut mich! "Aber Miran, woher hast du 14 Millionen?" Seine Augenbraue hebt sich. "Ich verdiene gut, Shirin." "Aber so gut?" "Beleidige mich nicht", warnt er mich. Ich zucke verdutzt zurück. Na gut, dann muss ich wohl keine Pfandflaschen sammeln, um uns das Ganze zu finanzieren. Auch die Sonne Hamburgs lässt Mirans miese Laune nicht schmelzen. Ich muss dabei zugeben, dass ich seine Eifersucht ziemlich schnuckelig finde. Es hat etwas, wenn er deswegen grimmig ist. Das lässt mich ganz unanständige Gedanken haben, die an meinem diskreten Arbeitsplatz nichts verloren haben. Ich grinse selbst in meinem Büro und beim kleinen Brunch mit Narin wie eine Verrückte. "Manchmal kann ich immer noch nicht glauben, dass du mit Guacamole Miran meintest." "Und ich kann immer noch nicht glauben, dass jetzt alle von uns Bescheid wissen."

"Du hättest ihn auf der Feier sehen müssen, Shirin. Er stand kurz vor dem Zusammenbrechen." Mein verträumtes Lächeln wird kleiner. Ich wollte Miran nicht weiter damit belasten, also musste ich meine Neugierde herunterschlucken. "Miran ist ein sehr kalkulierter Mann mit kühlem Kopf. Ich war durch seinen plötzlichen Ausbruch noch überforderter. Als er dir dann eine Mund-zu-Mund-Beatmung, sind ihm Tränen über die Augen gelaufen. Die kurzen Verschnaufpausen hat er nur genutzt, weil er geschluchzt hat. Gott!" Narin fächert sich Luft zu, weil ihr bei der Erzählung Tränen aufsteigen. "Ich habe meinen Bruder noch nie so gesehen und ich muss zugeben, dass ich es gut fand, ihn weinen zu sehen." Ich warte ungeduldig und mit pochendem Herzen, dass Narin mir mehr erzählt. "Er hat seine Emotionen immer unterdrückt. Dadurch, dass er der Älteste ist, litt er am meisten unter der Tyrannei. Wärst du nicht da, würde ich immer noch davon ausgehen, dass er keine Emotionen hat." Narin greift lächelnd nach meiner Hand, um sie zu drücken.

"Ihm hat deine tollpatschige Liebe gefehlt, Shirin."

Tollpatschige LiebeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt