Ich bin froh, dass beim Essen eine ausgelassenere Stimmung herrscht. Miran lacht sogar einige Mal durch Alan und Ali und füllt sich gerade zum dritten Mal seinen Teller auf. Bei den ganzen kurdischen Speisen, die Mama heute gemacht hat, hat sie sich auch nichts anderes als so ein Verhalten gewünscht - abgesehen davon, dass meine Brüder Vielfraße sind. Ich hingegen benötige bei meinem ersten Gang schon mehr Zeit, um das Fleisch herauszupicken, als wirklich zu essen. In den Weinblättern ist Rindfleisch drin und ich mag das nicht. Dafür profitiert Miran von einer Extraladung an Proteinen. "Ich hoffe, es schmeckt dir, Miran." Meines Wissens nach, ist Miran sehr wählerisch, aber bis jetzt scheint er sehr zufrieden mit dem Essen zu sein und bestätigt es Mama auch - was auch schon spätestens nach dem dritten Befüllen seines Tellers offensichtlich sein sollte. Etwas stimmt mit Miran nicht. Er ist viel zu abwesend und ruhig. Klar, an sich bin ich die Gesprächige von uns beiden, aber heute wirkt er besonders abgeschlagen.

Nach dem Essen wird es ernst. Der Schwarztee dampft aus allen Gläsern, die Früchte glänzen und reflektieren das Licht durch die Wassertropfen auf ihren Oberflächen. Jedem ist bewusst, weswegen ich mit Miran hier bin und doch pocht mein Herz, als müsste ich jetzt um Mirans Hand anhalten und nicht andersherum. Baba lächelt ihm zuversichtlich zu und fährt dann über sein kurzes, graues Haar. "Ich schätze, die Intention ist offensichtlich, dennoch weiß ich nicht genau, wie ich es zu handhaben soll." Miran macht es jetzt schon unbeschreiblich toll. "Ich möchte um die Hand eurer Tochter anhalten. Was immer als Brautgabe verlangt wird, besorge ich. Haus, Möbel, Stoff, Gold. Nur lasst mich eure Tochter heiraten." Meine Wangen erhitzen, ich senke verlegen meinen Blick, als ich die ganzen Augen auf mir spüre. Oh Mann, das ist mir so unangenehm, obwohl es etwas ganz Normales ist. "Shirin scheint sich sehr sicher mit dir zu sein. Du bist ein sehr vernünftiger Mann und bist bereit, dich um meine Tochter zu kümmern. Ich stehe euch nicht im Weg und wenn Shirin es möchte, werde ich ihr vertrauen." Baba klopft ihm lächelnd auf die Schulter. "Ich nehme dich als Sohn auf." Miran lächelt sanft, ein wenig traurig für meinen Geschmack.

***

Wir fahren gerade von der Tankstelle los. Mama hatte uns angeboten, doch eine Nacht zu bleiben, aber ich habe für Miran abgelehnt, weil ich weiß, dass er jetzt lieber allein sein möchte. Er hat sich unfassbar gut geschlagen. Meine Familie liebt ihn jetzt schon und ist mehr als nur zufrieden. Ich bin mir unsicher, ob ich es ansprechen soll oder nicht. Vielleicht, wenn wir zu Hause sind. Vielleicht, wenn wir Hamburg erreicht haben. Miran fährt schnell und da es schon spät ist, werden wir sicherlich eine halbe Stunde früher zu Hause sein. Nur ist die Frage, ob wir die heutige Nacht gemeinsam oder getrennt schlafen. Nach dem heutigen Ereignis habe ich ein umso stärkeres Bedürfnis, die Nacht gemeinsam zu verbringen, vor allem weil mir ein Teil seiner Freude gefehlt hat. Es würde mir ehrlich gesagt sogar sehr kränken, wenn er heute lieber allein sein möchte, aber ich möchte ihn zu nichts drängen. Nur habe ich das Gefühl zu platzen, wenn ich nicht schon bald frage, was ihn bedrückt. "Möchtest du mit mir reden?" "Es gäbe nichts, was ich lieber machen würde." Seine Aussage lässt mich nur schmal lächeln, weil er nahezu monoton klingt. "Dich bedrückt etwas, Miran." "Nichts, was unsere Zukunft beeinflussen wird." "Aber etwas, dass deinen Gemütszustand schon beeinflusst hat." "Es war ungewohnt, so viel familiären Zustand zu haben. Es ist alles in Ordnung." Ich glaube ihm nicht. Es hat schon mit der Aussage angefangen, dass seine Eltern verstorben sind.

Ich schweige ihm zuliebe, aber spätestens, als wir bettfertig unter seiner Decke liegen, muss ich ihn wieder konfrontieren. "Du wirktest heute ein wenig unsicher oder zumindest unwohl." Miran streicht mein Haar zurück, nickt nur als Antwort. "Ich wusste wirklich nicht, wie ich vorzugehen habe. Ich bin nicht traditionell aufgewachsen." "Du hast dich super geschlagen." "Danke, Shirin." Er senkt seine Lippen für einen kurzen Kuss auf meine. "Möchtest du mir das mit deinen Eltern erklären?" "Ich möchte dich nicht verunsichern." "Ich komme klar damit", versichere ich ihm. Was soll uns denn noch aufhalten? Miran wirkt nicht sonderlich überzeugt, weswegen ich näher zu ihm aufrutsche. "Bitte." Er seufzt, also gibt er nach! "Es erschien mir simpler, wenn ich behaupte, dass beide gestorben sind, als die Tatsache preiszugeben, dass sie die Beziehung nicht akzeptieren." Mein kleines Lächeln nimmt ab. Es zieht ehrlich gesagt ein wenig im Brust- und Bauchraum, aber ich komme zurecht. "Ich dachte, deine Mutter würde es akzeptieren." "Sie hält immer zu ihrem Mann. Würde sie das Privileg haben, dich zu sehen, wüsste sie, dass du es wert bist, aber beide sind sehr oberflächlich und möchten sich nur in ihrer selbsternannten oberen Klasse befinden." Er hat es kundgegeben, obwohl er wusste, wie sie reagieren werden.

"Und ... wie ist das Verhältnis nun?" "Ich wurde verbannt." Verbannt. Und das sagt er so leicht, als würde es ihn nicht interessieren. Ich schlucke. "Das heißt?" "Nichts von Relevanz, Shirin. Ich bin nicht mehr von ihm abhängig. Die Firma gehört einzig und allein mir. Ich werde für Kleinigkeiten enterbt, aber das ist nichts, was ich mir nichts selbst finanzieren kann. Zerbrich dir nicht den Kopf." Er wurde aus dem Elternhaus verbannt, weil er liebt. Ich ... ich bin fassungslos. Wie kann man seinem eigenen Kind so etwas antun? Wofür? Wie kann der Vater ruhigen Gewissens in einer schlechten, gesundheitlichen Verfassung so Abschied von seinem erstgeborenen Sohn nehmen? Und die Mutter? Wie blind muss sie sein, dass sie allem nachgeht, was ihr Mann befiehlt? Schreit ihr Herz nicht nach ihrem Sohn? Nach dem Verlust? Sie wird ihn nie wiedersehen, wie kann sie das einfach so hinnehmen? "Früher hätte ich alles dafür getan, um beide zufriedenzustellen. Heute weiß ich, dass ich mich ihretwegen eingeschränkt und vieler Sachen beraubt habe. Mein Gefühl für Zufriedenheit hat sehr darunter gelitten. Wenn man seit Klein auf in einem Milieu aufwächst, das einem nie zeigt, dass man etwas gut gemeistert hat, wird man es selbst nur schwer oder gar nicht erkennen. Es war die einzig richtige Entscheidung, die Verbannung ohne Weiteres anzunehmen."

Mir fehlen jegliche Worte. Ich hoffe sehr, dass Miran mir die Wahrheit sagt und nicht trauert. Mein Seufzen entweicht mir tief und langsam, als ich über seine Brust fahre. "Das tut mir leid, Miran." "Das muss es nicht, Shirin. Du bist meine Bereicherung und Erleichterung. Ich bin zufrieden mit meiner Entscheidung." Er ist zufrieden. Das freut mich ungemein, vor allem, wenn man die Entscheidung bedenkt. Es sind seine Eltern und doch ist er emotional stabil genug, sich von ihnen zu entfernen, obwohl er lang abhängig von der Anerkennung war - vor allem väterlicherseits. Ich schmiege mein Gesicht an seine Halsbeuge. "Es belastet dich wirklich nicht?" "Es ist befreiend. Mach dich nicht verrückt, Shirin. Ich brauchte den Anstoß. Je länger ich noch in irgendeinem Kontakt zu meinen Eltern stehen würde, desto länger wäre ich tief in meinem Inneren wütend. Wärst du nicht in meinem Leben, hätte ich wahrscheinlich niemals weitergehen können." Er hat recht, dennoch verstehe ich nicht, wieso mir die Tränen aufsteigen. Es tut mir immer noch unfassbar leid, dass es so weit kommen musste, auch wenn es für ihn nur das Beste ist. Er ist 32 und hat erst dieses Jahr Liebe erfahren können. Ich gebe mir alle Mühe, mein Weinen nicht bemerkbar zu machen, wische meine Nase an meiner Schulter deswegen ab. "Nicht weinen, Shirin." Oh Mann. Ich muss lachen.

Miran drückt mich sanft auf die Matratze, um sich über meinen Körper zu stemmen und meine Tränen wegzuwischen. "Alles gut", versichere ich ihm. "Das wird es. Spätestens nach der Hochzeit. Wo möchtest du deine Flitterwochen verbringen?" Darüber habe ich mir noch nie Gedanken gemacht. "Nirgendwo, wo große Spinnen und noch größere, fliegende Insekten sind." Aber wenn da viele streunende Katzen und Hunde sind, werde ich weinen. Oh Mann, ich weiß es nicht. Ich mag London. "London?" "Aber da waren wir doch zweimal", lächelt er. "Ich weiß nicht", gestehe ich. "Ich denke, Andalusien wird dir gefallen." "Sind da viele Katzen und Hunde auf den Straßen?" Miran lächelt sanft. "Ich bin mir sicher, dass wir eine Lösung finden werden. Ich suche demnächst einige schöne Orte und zeige sie dir." Er lässt sich wieder neben mir nieder. "Ich werde auch höchstwahrscheinlich den Fusionsdeal ablehnen." Was?! Ich setze mich augenblicklich auf und starre ihn an. Ist er wahnsinnig? Wir saßen doch nicht monatelang an der Planung, damit er ablehnt? "Wieso?" "Weil es danach unfassbar viel Zeit in Anspruch nehmen würde." "Ja, aber ... du wolltest es doch?" Zu meiner Anfangszeit hat Miran immer wieder davon gesprochen und ich habe immer wieder meine Priorität auf Herrn Hesemann gelegt und jetzt möchte er nicht mehr?

"Tief durchatmen, Shirin. Leg dich hin." Ich verstehe die Welt nicht mehr. Der Deal hätte mehrere Millionen Euro gebracht. "Erkläre es mir." "Du und vor allem ich wären zu tief mit der Arbeit beschäftigt. Ich habe viel zu lang und viel zu oft gearbeitet und mich vernachlässigt. Ja, ich würde viel Gewinn machen, aber ich stand zu oft kurz vor dem Burn-out, um meinen Gedanken und Gefühlen aus dem Weg zu gehen. Jetzt darf ich endlich leben und lieben und das möchte ich gegen kein Geld der Welt eintauschen." Natürlich, wie konnte ich das nur übersehen! "Geld kommt und geht. Das war nicht das erste und auch nicht das letzte Angebot. Ich möchte mich einfach endlich ein wenig zurücklehnen. Mir ist bewusst, dass ich dennoch an die Arbeit denken werde, aber ich will den Anfang unserer Ehe nicht mit Nachtschichten belasten." Ich sehe in seinen erhellten Zügen, dass die Sätze eine heilende Wirkung auf ihn haben. Vorfreude leuchtet in seinen hellen Augen. "Deine Blütezeit beginnt jetzt, Miran. Du strahlst jetzt schon." "Ja", flüstert er. Ich spüre, dass er emotional werden möchte, es jedoch unterdrückt. Aus diesem Grund drücke ich ihn fest an mich.

So soll jede unterdrückte Träne seinerseits den Boden für die süße Frucht seiner Zufriedenheit und Geduld nähren.

Tollpatschige LiebeWhere stories live. Discover now