Ich hörte sein glückliches Grinsen aus den Worten heraus und musste unwillkürlich auch lächeln. Ich liebte es, meinen kleinen Bruder so glücklich zu sehen. Er hatte eine schwere Zeit hinter sich, nachdem er bemerkt hatte, dass er sich gleich in zwei Menschen verliebt hatte. Erst in Jörg, dann in Kristin, die zu dem Zeitpunkt bereits eine lockere Affäre mit Jörg gehabt hatte. Es dauerte, bis die drei sich endlich zusammengerauft hatten, und noch viel länger, bis sie ihre Liebe zueinander öffentlich gemacht hatten. Allem negativen Gegenwind aus ihrem Umfeld zum Trotz waren sie seitdem unzertrennlich und schrecklich verliebt ineinander.

»Ja, klar kommen wir. Noah wird sich freuen, euch zu sehen.« Nicht nur ich mochte die Lebensgefährten meines Bruders. Noah hatte einen Narren besonders an Jörg gefressen und beschlagnahmte ihn jedes Mal komplett für sich, wenn wir uns sahen. Und Jörg liebte es und ließ sich zu gerne darauf ein. Die beiden waren ein tolles Team zusammen und hatten nur Blödsinn im Kopf.

»Wie geht es dir wirklich, Finchen?«

Der plötzliche Stimmungsumschwung traf mich völlig überraschend, genauso wie der Spitzname. Finchen nannten mich nur mein Vater und mein Bruder, und immer nur dann, wenn es ernst wurde.

Ich schwieg, während ich das letzte Glas in den Geschirrspüler räumte und die Klappe schloss.

»Bitte keine Ausflüchte. Ich will die Wahrheit!«

Ich seufzte. Wenn er den Ton anschlug, wusste ich, dass ich verloren hatte. Er hatte einen unfassbaren Dickkopf und würde nicht lockerlassen. Dann war immer die beste Strategie, ihn mit einem kleinen Teil der Wahrheit abzuspeisen.

»Es geht schon. Wir schlagen uns schon irgendwie durch. Im Moment ist Noah in einer anstrengenden Phase, aber das geht auch wieder vorbei. Du weißt ja: 'Nur die Harten kommen in den Garten'.«

Statt auf diesen dämlichen Spruch aus unserer Kindheit einzugehen, schwieg René eine Weile. »Wenn du Hilfe brauchst, musst du nur was sagen, das weißt du, oder?«

»Ja«, antwortete ich. Natürlich wusste ich das. Sie hatten es ja oft genug angeboten. Sie hatten aber auch ihre eigenen Leben und Termine, und ich konnte nicht verlangen, dass sie plötzlich auch noch meine Probleme mitlösen mussten. »Ich will euch aber auch nicht auf der Tasche liegen. Ich habe hier alles unter Kontrolle und streng organisiert.«

Er seufzte. »Trotzdem habe ich den Eindruck, dass du dich jedes Mal, wenn wir telefonieren, müder anhörst. Und als wir uns das letzte Mal gesehen haben, sind mir deine Augenringe aufgefallen, trotz der dicken Schicht Make-up. Papa hat den gleichen Eindruck. Finchen, wir machen uns einfach Sorgen um dich.«

Die Worte trieben mir Tränen in die Augen, die ich entschieden bekämpfte. »Das ist lieb von euch, aber das braucht ihr nicht. Ich melde mich, wenn ich Hilfe brauche, versprochen!«

»Du solltest dringend mal Urlaub machen.«

Die Worte ließen mich auflachen. Von welchem Geld sollte ich mir bitte schön Urlaub leisten können? »Ich habe bald ein paar Tage zu Ostern frei, wenn der Kindergarten geschlossen hat«, antwortete ich ausweichend.

»Fahrt ihr weg?«

»Wir wollten uns bei Papa für ein paar Tage einquartieren.«

Dem leisen Brummen nach war das nicht die Antwort, die René sich erhofft hatte. Aber ich konnte es nicht ändern. Für richtigen Urlaub war definitiv kein Budget übrig. Weder finanzielles noch zeitliches. Meine Urlaubstage gingen für reguläre Schließtage des Kindergartens, Notbetreuung und Krankheitsfälle drauf.

»Naja, immerhin. Was ist denn mit übermorgen? Habt ihr da schon was vor?«

Ich warf einen kurzen Blick auf den Wandkalender, ohne den ich völlig aufgeschmissen wäre. »Übermorgen hat Noah bis drei Uhr Kindergarten und danach Turnen.«

»Und du fährst ihn normalerweise hin? Lass mich das machen. Ich habe nachmittags frei.«

»Aber du hast doch bestimmt was anderes vorgehabt.«

»Ja, Zocken. Nichts, was ich nicht auch verschieben könnte. Ich hole ihn direkt vom Kindergarten ab. Dann hast du mal einen Nachmittag frei, okay?«

Ich ließ mir den Gedanken durch den Kopf gehen. Das würde mir tatsächlich helfen. Ich könnte den Wocheneinkauf erledigen und vielleicht auch noch mal im Klamottenladen nebenan vorbeischauen. Noah brauchte unbedingt eine neue Matschhose, nachdem er aus der alten endgültig rausgewachsen war.

Also stimmte ich zu, und die ehrliche Freude meines Bruders ließ mir das Herz aufgehen. Wir tauschten noch ein paar Belanglosigkeiten miteinander aus, dann verabschiedeten wir uns voneinander.

Die Küche war in der Zwischenzeit fertig, jetzt war die Wäsche dran. Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass es bereits zehn Uhr war. Unwillkürlich gähnte ich herzhaft. Eigentlich wäre es sinnvoller, wenn ich jetzt schlafen ginge. Die Nacht würde vermutlich wieder anstrengend werden. Aber die Wäsche faltete sich auch nicht von alleine. Noah hatte schon kaum mehr etwas in seinem Schrank und suchte sich seine Sachen aus dem Stapel heraus. Damit verschlimmerte er das Chaos natürlich nur noch. Also machte ich mir einen Tee und ging ins Wohnzimmer.

Auf dem Weg dorthin kam ich an der Kommode im Flur vorbei, auf der die Schale mit den Schlüsseln und meistens auch die aktuelle Post lag. Den kleinen Stapel, den ich vorhin mit hochgenommen hatte, hatte ich bisher völlig vergessen.

Ich nahm alles mit ins Wohnzimmer und machte es mir auf dem Sofa bequem. Ohne großes Interesse sah ich die Umschläge durch. Eine Rechnung, Informationen der Krankenkasse, Werbung und ein silbergrauer Umschlag, der mich stutzen ließ. Neugierig drehte ich ihn in der Hand, während ich alle anderen Briefe auf den Couchtisch warf.

Nachdenklich betrachtete ich ihn von allen Seiten. Er war schlicht, aus silbergrauem, schwerem Papier. Und das Ungewöhnlichste: Es war weder ein Absender noch ein Adressat darauf vermerkt. Das einzige war der Buchstabe »J«, in einer verschnörkelten, eleganten Schrift geschrieben.

Im Inneren befand sich eine Karte, bei der mir sofort die Textur des Papiers auffiel – dick und samtig, mit einer leichten Struktur, die unter meinen Fingerspitzen fast elektrisch zu knistern schien. Auf der Vorderseite prangte weder ein Siegel noch Schnörkel oder Ornamente, sondern auch hier nur ein einziger, großer Buchstabe – ein elegantes 'J', gedruckt in einem tiefen, glänzenden Schwarz, das aus dem ansonsten makellos weißen Hintergrund herausstach.

Auf der Rückseite stand ein Satz in einer klaren, geradlinigen Schriftart:

»Dresscode: Zeige dich in deinem besten Schwarz-Weiß.«

Darunter ein Datum und eine Uhrzeit. Kein Ort, keine weiteren Hinweise darauf, was das hier zu bedeuten hatte oder von wem ich die Nachricht, die definitiv eine Einladung war, erhalten hatte. Und damit warf sie mehr Fragen auf, als sie beantwortete.

Das Datum war ein Freitag in zwei Wochen. Es machte mich sehr neugierig, was mich da erwarten würde. Aber ich konnte Noah beim besten Willen nicht allein lassen. Sehr schade! Und noch ärgerlicher, dass ich keine Ahnung hatte, wer der Absender war und bei wem ich absagen konnte. Ich wusste ja noch nicht einmal, wo ich hinkommen sollte. Irgendwie schon seltsam. Aber gut, das hatte sich derjenige dann auch selbst zuzuschreiben, wenn man keine Kontaktdaten hinterließ.

Ich trank meinen Tee leer, ging in die Küche, um mir noch eine Tasse zu machen, und hängte die Einladung an die Pinnwand. Noch einmal strich ich darüber und spürte die Enttäuschung in mir aufkommen. Aber es half ja nichts.«

Als der Tee fertig war, machte ich mich endlich daran, die Wäscheberge zu erklimmen, und vergaß die mysteriöse Einladung darüber völlig.


Dancing back to LifeWhere stories live. Discover now