Kapitel 27 - Der Wald - Zu zweit

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Die Vögel zwitscherten, die Sonne schien warm auf meine Haut und unter mir fühlte es sich hart an, denn ein zweites Mal lag ich auf der Holzbank am Waldrand. Ich setzte mich vorsichtig auf, aus der Angst heraus, wieder diese Schmerzen zu spüren wie das letzte Mal, doch da war nichts. Lediglich meine Glieder waren etwas versteift von dem Liegen auf der harten Bank und mein Kopf schmerzte leicht. Ungläubig schaute ich an mir herab und musterte meinen ganzen Körper auf der Suche nach Schürfwunden, doch alles war heil. Krampfhaft versuchte ich mich zu erinnern: Ich hatte beschlossen in der Abenddämmerung in den Wald zu gehen und war entschlossen losgegangen...

Und dann? Was war dann passiert?

Mein Kopf fühlte sich so leer an, wie das letzte Mal, als ich hier erwacht war und mich versuchte zu erinnern.

Wie konnte das sein?

Ich ging nochmal in den Wald und suchte nach einem möglichen Hinweis, doch alles was ich fand, war meine Campinglaterne, die unweit von einer alten, gigantisch großen Eberesche stand und noch immer leuchtete. Ich schaltete sie aus und ging mit gemischten Gefühlen nach Hause. Es war zwar gut, dass mir nichts Schlimmeres passiert war, doch noch immer wusste ich nichts und das Vergessen machte mich wahnsinnig!

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"Wo kommst du denn her? Und was willst du am hellichten Tag mit einer Campinglaterne?", fragte Melanie, als ich mit der Campinglaterne in der Hand an ihr vorbeilief.

Sie machte sich gerade an dem ehemaligen Gartenbeet meiner Großeltern zu schaffen und rupfte das Unkraut heraus.

Ich ging näher an sie heran und ließ mich auf einen der großen Steine im Garten plumpsen.

"Du siehst ja völlig fertig mit den Nerven aus!", bemerkte sie.

"Bin ich auch! Ich war gestern Nacht im Wald und jetzt rate mal, wo ich aufgewacht bin!?", sagte ich entnervt.

"Ach nein! Echt jetzt? Erzähl alles!"

"Würde ich ja gern, wenn ich könnte!", erwiderte ich.

Melanie stoppte in ihrem Tun und setzte sich ebenfalls auf einen der großen Steine.

"Dir fehlt also wieder die Erinnerung... Wie sieht es mit Verletzungen aus?"

Ich zeigte ihr meinen unbeschadeten Körper und schüttelte entmutigt den Kopf.

"Das gibt es ja nicht!", rief sie aus.

"Dann gehen wir heute Abend zu zweit!", fügte sie nach einer Weile Bedenkzeit hinzu.

"Und was soll uns das bringen? Zwei gelöschte Kurzzeitgedächtnisse?" fragte ich.

Es herrschte nun stilles Schweigen zwischen uns. Ich dachte schon, dass auch sie die Gesamtsituation als 'sinnlos, unlösbar' abgestempelt hatte, bis sie den Kopf vom Boden löste und mich erwartungsvoll anschaute.

"Wo bist du aufgewacht?"

"Auf der Parkbank am Waldrand."

"Bingo! Dann legt sich einer von uns dort auf die Lauer und beobachtet heimlich, wie der jeweils andere dahin verfrachtet wird!", schlug sie vor.

"Das klingt zur Abwechslung mal nach einem gescheiten Plan!", antwortete ich.

Die Idee war der Hammer! Das könnte wirklich funktionieren...

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Draußen war es noch heller als es gestern war, als ich in den Wald ging, sodass wir unsere Lampen noch ausgeschaltet hatten. Wir saßen auf der Bank am Waldrand und trafen letzte Absprachen vor unserer Mission.

"Gehst du oder soll ich?", fragte Melanie, gähnte im selben Atemzug und von ihrem Gähnen wurde ich sogleich angesteckt.

"Ach, ich hab doch auch keine Ahnung. Los, spielen wir Stein- Schere- Papier", schlug ich vor.

"Gute Problemlösestrategie", lobte mich Melanie und wir fingen zeitgleich an, einzuzählen.

"Hey ich wusste gar nicht, dass wir mit 'Brunnen' spielen", protestierte ich, als meine 'Schere' drohte in ihren 'Brunnen' zu fallen.

"Na und! Jetzt ist es so! Die Ausgangslage ist doch wohl eindeutig! Außerdem hätte ich mich sowieso für 'Stein' entschieden, wenn wir ohne 'Brunnen' gespielt hätten."

"Das kann ja jeder sagen! Das Spiel heißt 'Stein, Schere, Papier' und nicht 'Stein, Schere, Papier, Brunnen, Schwarzes Loch'!"

"Ach, wir spielen mit dem 'Schwarzen Loch'? Hätte mir das vielleicht mal jemand sagen können?", schauspielerte Melanie.

"Na gut, ich gehe. Da muss ich mir wenigstens nicht weiter deine frechen Ausreden anhören!", sagte ich schließlich.

"Aber nur, wenn ich die Campinglaterne bekommen darf und wehe du schläfst ein!", fügte ich hinzu.

Ich überließ Melanie die Taschenlampe, verabschiedete mich und ging in den Wald. Es war immer noch nicht dunkel, sodass ich mich genau umschauen konnte. Alles sah friedlich aus, ich konnte nichts auffälliges erkennen und so ging ich tief in den Wald hinein, bis zu meiner geliebten Lichtung und ließ mich mit Blick zum Wald nieder. Es sah nicht danach aus, als wäre jemand im Wald und als würde irgendetwas hier passieren in dieser Nacht. Und das ausgerechnet heute, wo Melanie und ich diesen genialen Plan geschmiedet hatten...

Ich weiß nicht, wie lange ich wartete, bis es endlich dunkel wurde und ich den Lichtschalter der Laterne umlegte. Plötzlich hörte ich Stimmen wispern, deren Lautstärke mehr und mehr anschwoll.

Ob das Flüstern Adrian und den anderen Opfern gehörte?

Waren sie doch hier im Wald?

Oder waren es die Täter, die flüsterten?

Es sah so aus, als würde der Ahorn am Rande der Lichtung um sich schlagen und auch einige Bäume in weiterer Entfernung schienen sich zu bewegen. Klageschreie drangen in meine Ohren und kurz bevor sie drohten zu explodieren, hielt ich sie fest zu und kniff meine Augen zusammen.

Was war nur mit mir los? Hatte ich etwas falsches gegessen?

Ich redete mir immer wieder ein, dass alles gut wäre und faselte eine Zeit lang wirr vor mich hin. Doch irgendwann erinnerte ich mich an den Grund, warum ich hier war und erkannte: ich musste mich zusammen reißen! Melanie wartete da draußen auf mich und ich wollte sie nie und nimmer enttäuschen! Langsam nahm ich meine Hände von meinen Ohren: erst die linke und als ich keine lauten Schreie mehr hörte auch die rechte Hand. Weit in der Ferne hörte ich noch immer leises Geflüster, aber das durfte mich nicht davon abhalten auch noch meine Augen zu öffnen, was ich dann auch langsam und vorsichtig tat. Ich hatte mich schon auf das Schlimmste eingestellt, doch ich wurde überrascht, als der Ahornbaum vor mir nicht mehr wild um sich schlug. Jedoch glaubte ich einen breiten Riss zu sehen, der sich vertikal über den dicken Stamm zog.

Der war doch vorher noch nicht dagewesen oder?

Ich nahm meine Campinglaterne in die Hand, stand langsam auf und ging näher an den Baum heran, um den Riss zu betrachten. Ich beleuchtete den Spalt und entdeckte, dass sich im Bauminneren ein großer Hohlraum befand.

Was war mit diesem Baum passiert?

Bevor ich mir diese Frage beantworten konnte, passierte etwas Anderes, was meine ganze Aufmerksamkeit auf sich zog...

Die flüsternden BäumeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt