12. Lilith

15.9K 1.1K 139
                                    

„Ich hoffe du magst Sprudelwa- Oh", Jacob hielt inne.

Ich sah auf, woraufhin er mir unsicher ein Glas hinhielt. Dabei sprangen seine Augen nervös zwischen Nathans unbeweglicher Miene und Rayes aufmunterndem Grinsen hin und her. Einen Augenblick starrte ich ihn einfach an, nahm es ihm schließlich aus der Hand und kippte den Inhalt in meinen Hals. Es tat gut, wie die prickelnde, erfrischende Flüssigkeit durch meine Kehle in den Magen rann und eine angenehm brennende Spur hinterließ. Ich stellte den leeren Becher auf der Sofalehne ab und richtete mich wackelig auf. Schwindel überkam mich, aber ich ignorierte es. Ich musste hier weg, so schön ich es auch fand. Ich war nicht erwünscht, was man gut an Nathans Blicken ablesen konnte.

„Ich wollte niemandem Umstände bereiten", meine Stimme klang klarer, „Ich sollte jetzt sowieso gehen."

Doch mein Abgang war nicht so geschmeidig, wie ursprünglich geplant. Ich torkelte einen Schritt vor und drohte auf Jacob zu fallen. Er packte mich reflexartig an den Schultern und lachte. „Woah, nicht so wild! Wollen wir es nicht erst langsam angehen?"

„Scheinbar solltest du dich erst etwas ausruhen", bemerkte Nathan und sein rechter Mundwinkel hob sich spöttisch.

Raye schob mich sanft, aber bestimmt, zurück auf das Sofa und ließ sich neben mich fallen. Ich fühlte mich unbehaglich.

Plötzlich durchbrach ein Vibrieren die seltsame Atmosphäre und Nathan holte sein Handy aus seiner Hosentasche hervor. Nachdem er einen Blick auf den Bildschirm geworfen hatte, sagte er: „Da muss ich ran." Er musterte mich, der Argwohn war immer noch nicht aus seinen Zügen gewichen. „Raye, du behältst sie im Auge."

Ich wollte gerade anfangen zu protestieren, warum er so tat, als sei ich ein Schwerverbrecher, als mir einfiel, dass ich das Mädchen war, welches sie aus dem Müll aufgegabelt hatten und so aussah, als hätte man einen Eimer Blut über ihrem Kopf ausgeleert. Die Situation erschien mir so surreal, dass ich mich fragte, ob ich nicht vielleicht doch einen Traum hatte und gleichzeitig wunderte ich mich, warum diese Menschen das so verhältnismäßig locker nahmen. Ich hatte damit gerechnet, dass sie direkt die Polizei riefen, doch sie schienen nicht mal dran zu denken.Vor ihnen saß jemand, der dem Aussehen nach zu urteilen, genauso gut ein Massenmörder sein konnte und es wirkte fast so, als seien sie einen solchen Anblick gewöhnt. Nur dieser Nathan ließ sich etwas aus der Ruhe bringen.

„Warum darf Raye immer der Boss sein?", beschwerte sich Jacob mit weinerlicher Stimme.

„Weil du nicht zurechnungsfähig bist, Jabby-Baby", zufrieden schloss das Mädchen neben mir ihre Augen, lehnte sich zurück und verschränkte die Arme hinter ihrem Kopf.

„Und du bist es, oder was?", schnaubte Jacob.

„Immerhin mehr als du."

„Ach ja? Und was war als-"

„Es reicht!", rief Nathan streng dazwischen und hielt den Hörer an sein Ohr. Er kam mir beinahe so vor wie ein Vater, der versuchte den Streit seiner beiden Kinder zu schlichten. Er sah mich kurz prüfend an, dann drehte er sich um und ging Richtung Ausgang. Ich hörte noch wie er „Ja?" in den Hörer sprach.

Raye lachte Jacob aus, der sie beleidigt anfunkelte und ihr mit dem Finger drohte. Ich beobachtete Nathan, wie er quer durch die aufgepimpte Lagerhalle marschierte, bis er eine torähnliche Tür aufschwang und hinaustrat. Kurz erhaschte ich einen Blick auf den Parkplatz und die dahinter liegenden Bäume. Angestrengt versuchte ich mich zu erinnern, ob ich je von meiner Bank auf dem Abhang aus, eine Anlage mitten im Wald entdeckt hatte, doch mir wollte nichts einfallen.

„Morgens ist es hier relativ ruhig, aber es füllt sich im Laufe des Tages", sagte Raye auf einmal und ich brauchte einen Moment, um zu verstehen, dass sie mit mir redete. Jacob hatte sich auf den Boden vor den Fernseher gesetzt und startete die Konsole.

Ich sehe dichWo Geschichten leben. Entdecke jetzt