15. Oni

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Ich betrat den stillen Raum, schlenderte vorbei an den schlafenden Nachhilfebedürftigen, an Joel, der wieder mit seinem Handy beschäftigt war und setzte mich nach ganz hinten neben einen Jungen aus meinem Mathe-Kurs. Sein Name war mir nicht im Sinn geblieben, aber ich wusste, dass ich seine Stimme im Unterricht öfter hörte, als es sich für einen Durchschnittstypen gehörte. Er war heute das erste Mal erschienen. Warum musste einer wie er überhaupt zur Nachhilfe? Er gehörte doch zu der Sorte Schüler, die die Antwort wussten, noch bevor der Lehrer die Frage gedacht hatten. Er sah kurz auf, widmete sich dann aber wieder seinem Buch, welches er unter dem Tisch las. Ich ließ mich auf den Stuhl fallen und sah mich nach Blake um. Ich entdeckte ihn unweit von mir, wie er einen Lolli auspackte und ein Plakat über irgendeinen verstorbenen Dichter betrachtete.

Ich blickte zu dem Jungen neben mir. „Es ist doch in Ordnung, dass ich hier sitze, oder?" Ich klang bedrohlicher als beabsichtigt.

Er nickte, ohne aufzusehen und las weiter- versuchte es zumindest.

„Was ist das?", fragte ich, während ich mich zu ihm vorbeugte. Mir war langweilig und es gab momentan nichts besseres zutun, außer meinen Banknachbarn zu nerven.

„Ein Buch", antwortete er und blätterte um.

Ich verdrehte die Augen und sagte: „Titel?"

Er holte hörbar Luft, hob seinen Kopf und klappte den Roman zu, markierte jedoch mit seinem Daumen die Stelle an der er stehengeblieben war. „Kennst du nicht."

„Woher willst du das wissen?"

Blake sah kurz herüber, schien aber keine Gefahr in dem Mathe-Kurs-Jungen zu sehen und ging zum nächsten Plakat.

„Ich-", er hielt inne, schloss kurz die Augen, um runterzukommen und setzte ein falsches Lächeln auf, „Rückkehr der Elbenritter."

„Hm." Ich nickte wissend.

„Und?"

Und was?"

„Kennst du es?" Er hob eine Augenbraue.

„Nein."

Er schnaubte verächtlich und öffnete wieder seine Seite. Ich grinste seelig vor mich hin. Vielleicht sollte ich tatsächlich öfter in Kontakt mit meinen Mitschülern treten, halt nur auf eine etwas andere Art und Weise.

Die nächsten 3 Minuten gestalteten sich nicht spannender als davor- die Aufgaben, die an der Tafel standen, verstand ich sowieso nicht-, also riss ich einpaar Blätter aus meinem Block und zerknüddelte sie zu Bällen. Ich sah durch die Klasse, auf der Suche nach meinem nächsten Opfer. Mike hatte sich zu dem Kunst-Kurs-Mädchen gesetzt. Ich erkannte von hier aus, wie er kleine Penisse auf den Tisch kritzelte. Eine produktivere Aktivität hätte ich ihm auch nicht zugetraut.

Trotzdem verdient er eine kleine Strafe, dachte ich händereibend und lachte teuflisch in mich hinein. Der Matheboy schien meinen Plan durchschaut zu haben, denn er hatte seinen Fantasy-Schinken zur Seite gelegt und beobachtete gemeinsam mit mir die Leute.

„Nimm Mike Nelson", schlug er vor, als hätte er meine Gedanken gelesen. Ich holte aus und der Papierball flog im weiten Bogen über die Köpfe der anderen, nur um an der Stuhllehne des Zielobjekts abzuprallen.

„Schlecht", bemerkte mein Komplize trocken.

„Mach's besser!", forderte ich ihn auf.

Er nahm sich entschlossen ein weiteres verarbeitetes Stück Baum, formte es zu einer Kugel und warf...

...warf und traf Joels Hinterkopf.

Er drehte sich abrupt um und funkelte mich böse an. Nett, wie sehr er mich mit der Täterrolle identifizieren konnte. Ich zeigte auf den wahren Schuldigen neben mir, doch der hatte- wie auch immer er das geschafft hatte- in einem sekundenbruchteil wieder seinen Schmöker aufgeschlagen und tat so, als wäre er ganz vertieft darin und würde gerade imaginär gegen dunkle Orks mit verzauberten Knochenschwertern kämpfen.
Elender Bastard.

Ich sehe dichWo Geschichten leben. Entdecke jetzt