Wimpelhaft

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Der Figurenwimpel von Borneo, in wissenschaftlichen Kreisen auch bekannt als Borneus Bornea, ist eine gepflegt anmutende Gestalt im sanften Federkleid. Sein Antlitz erinnert an die glatte Oberfläche von Seide, und sein Brustkorb ist so schillernd wie ein Regenbogen aus der Quadrat-Dimension. Also Regenbogen-zum-Quadrat mal viel schöner.

Seine Artgenossen verblassen im Glanz seiner Pracht und fallen vor lauter Neid ohnmächtig zur Erde. Manche mit ihm den Lebensraum teilenden Bewohner konnten seinen Prunk nicht mehr ertragen und machten Jagd auf ihn. Der Figurenwimpel von Borneo gilt deshalb in manchen Teilen der Welt als gefährdete Art.

Daraus ergab sich die "Figurenwimpel-von-Borneo-schützende-Organisation" in Mongolulu, geführt von Abdel Lampenschein. Trotz seines manchmal scheinheiligen Auftretens ist er einer der führenden Experten und Fürsprecher für die Erhaltung dieser besonderen Spezies.

Der Figurenwimpel von Borneo ist vorwiegend in den üppigen Wäldern des Bubinga-Baumes zu finden. In einer Symbiose von Bubinga-Holz und Figurenwimpel entsteht, man könnte es fast schon eine Komposition nennen, ein harmonisches Zusammenwirken von exotischer Vollkommenheit, wie es selten ein zweites Mal auf Mutter Erde zu beobachten ist.

Genau hier hat Abdel Lampenschein sein Lager aufgeschlagen. Eine laue Brise lässt die Blätter der pankreatischen Palmen flüstern, und die Kronen der Bubinga-Bäume wiegen sich sanft im Takt dazu.

Genau hier, wird Forschung betrieben.

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Abdel kniet sich hin und hebt eine Feder vom laubbedeckten Boden auf. Sie schillert so farbenfroh, dass er eine spezielle Schutzbrille tragen muss, um seine Augen nicht zu belasten. Behutsam lässt er die Feder in ein luftdicht verschließbares Päckchen gleiten. Ein herrlicher, langer Ton erklingt - der ganz besondere Gesang von Abdels einziger Leidenschaft. Er schaut hinauf und erhascht gerade noch einen Blick auf die Schwingen des Figurenwimpels, der in der nächsten Baumkrone seinen Augen entgleitet.

Seine Hand auf dem Knie abstützend, richtet sich Abdel wieder auf und bewegt sich mit einem erfüllten Lächeln zu seinem Zelt.

Die Sonne bricht hier und da durch das dichte Laubdach und verleiht der Szenerie eine warme und geheimnisvolle Atmosphäre, als wollte die Natur ihn immer tiefer in ihren Bann ziehen.

„So, wollen wir doch mal sehen", murmelt Abdel, im Zelt angekommen.

Das schwere Buch aus üppigen, etwas speckig gewordenem Papier schlägt sich wie von selbst auf. So auswendig kennt er seine Aufzeichnungen - ein Gesamtwerk lebensfüllender Zeit.

Nachdem auch der letzte Zweifel beseitigt ist, nickt Abdel zufrieden und klassifiziert die gefundene Feder als „Siebte Schwungfeder, linker Flügel".

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Das Alleinstellungsmerkmal des Figurenwimpels von Borneo ist unter anderem seine beherzte Affinität zu Schokoladen-Konfekt. Dieser Umstand stellt Abdel Lampenschein, sowie alle seine akademischen Kollegen, seit Jahren vor ein Rätsel.

Wie kann ein Lebewesen aus dem tiefsten Urwald eine Leidenschaft für eine von Menschenhand gemachte Süßigkeit entwickeln?

Diese Frage kursiert durch die Universitäten und brachte Studenten zum Verzweifeln.

Mit seinem speziell gekrümmten Schnabel ist der Figurenwimpel ein Meister darin, die dünne Plastikverpackung um den Schokoladenkonfekt zu entfernen - geschickter als jeder Papagei beim Nüsse knacken. Bisher hat man jedoch noch keinen einzigen Figurenwimpel auf frischer Tat dabei beobachtet...

Der Figurenwimpel von BorneoWhere stories live. Discover now