6. Dezember

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Das Weihnachtswunder

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Das Weihnachtswunder

Jedes gute Märchen beginnt mit den Worten »Es war einmal«. Es war einmal eine Prinzessin, es war einmal ein Prinz, es war einmal ein junges Mädchen und so weiter und so weiter.
Dieses Märchen beginnt so: Es war einmal eine junge Frau, die alles hatte, was sie sich in ihrem Leben wünschen könnte. Sie hatte Eltern, die sie von Herzen liebte, Freunde, die mit ihr durch dick und dünn gingen, einen Job, an dem ihr Herzblut hing und einen liebevollen Freund, der gleichzeitig auch ihr bester Freund war. Ihr Leben war durch und durch perfekt und jeder Tag war ein neues Abenteuer gefüllt mit Liebe, Wärme und Zuneigung.
Leider war das jedoch erst der Anfang der Geschichte. Ihre Eltern lebten mittlerweile einen fünfstündigen Flug entfernt und ihr Job forderte beinahe jede freie Minute ihres Lebens. Zeit für Freunde und Familie blieb da kaum. Oh und ihr Freund hatte sie erst vor einer Woche verlassen. Kurz vor der Zeit, die ihr die liebste Zeit des Jahres war. Die Weihnachtszeit.
Nun, diese Frau war ich. Und ich saß ziemlich in der Klemme.
»Nein, nein, nein! Bitte nicht! Das darf doch alles nicht wahr sein! So ein verdammter Bockmist!« Wütend schlug ich mit der Faust auf das Armaturenbrett. »Komm schon!«
Obwohl ich mir fest vorgenommen hatte, mir keine Vorwürfe zu machen, weil ich Annas spontanem Angebot gefolgt war, keimte da ein Gefühl in mir auf, dass sich schwer nach Selbstmitleid anfühlte. Zunächst sei zu meiner Verteidigung gesagt, dass sich die Idee, die Weihnachtstage fern meiner eigenen vier Wände zu verbringen, wie ein Geschenk des Himmels angehört hatte. Wenn man die letzten sechs Weihnachten ausschließlich in einer Großstadt wie New York verbracht hatte, konnte man die heimelige Kleinstadtidylle ziemlich schnell vermissen.
»Komm schon, Heather. Das wird lustig werden. Wir haben uns schon so lange nicht mehr gesehen und vielleicht kannst du ihn für ein paar Tage vergessen. Wir werden so viel Spaß zusammen haben«, hallte Annas Stimme in meinem Kopf wider.
Ja, super. Ich hatte gerade den Spaß meines Lebens.
Da mir die Millionenmetropole dieses Jahr keinen Anlass gab, um zu bleiben – vielmehr war das Gegenteil der Fall – hatte ich mit ungeahnter Geschwindigkeit ein paar Klamotten in eine muffige Sporttasche geworfen und war ins Auto gesprungen. In den letzten Jahren hatte ich schon oft Schneestürme miterlebt, die nicht nur den Flugverkehr, sondern auch halb New York lahmgelegt hatten. Es waren die Art von Schneestürmen, bei denen man die Wohnung drei Tage – wenn es einigermaßen gut läuft – bis eine Woche – das war der ungünstige Fall - nicht verlassen konnte, weil man von allen Seiten zugeschneit war. Man könnte also durchaus behaupten, ich hätte es besser wissen müssen.
Mein altes Ich, entweder entsetzlich dumm oder furchtbar naiv – die Entscheidung, was von beidem nun zutrifft, überlasse ich euch – war felsenfest davon ausgegangen, das Wetter würde sich schon wieder beruhigen. Dass ein Sturm dieser Größenordnung sich verschlimmern und mich überdies entlang der Ostküste verfolgen würde, daran hatte ich natürlich keinen Gedanken verschwendet. Und war damit geradewegs in mein Verderben gebrettert.
Mein betagter und treuer Weggefährte hatte endgültig den Geist aufgegeben. Und als wäre das mitten auf einer wenig befahrenen Landstraße nicht schon schlimm genug, ließ sich mein Smartphone nicht dazu herab, mir aus meiner Misere zu helfen. Nicht einmal ein Balken. Draußen herrschten winterliche Grade, ich würde mich also davor hüten, jetzt die Tür aufzumachen und die Wärme entweichen zu lassen. Meine einzige Chance bestand also darin, darauf zu hoffen, dass jemand anderes bescheuert genug war, bei diesem Wetter ins Auto zu steigen oder dass der Sturm doch nicht so schlimm war, wie ich befürchtete.
»Verdammter Mist.«
Meine Zähne klapperten schon aus Prinzip aufeinander, obgleich ich es in meiner Winterjacke eigentlich recht gemütlich hatte. Außerdem war die Heizung bis eben – kurz vor dem frühzeitigen Ableben meiner heißgeliebten Schrottkarre – auf Hochtouren gelaufen, weshalb manch einer das Innere des Wagens wohl auch als Sauna zweckentfremdet hätte. Fragte sich nur wie lange es noch so blieb.
Kleine Schneeflocken wirbelten durch die Luft und der Beginn eines Schneesturms, wie ich ihm nur knapp entronnen war, kündigte sich an. Nicht lange und ich würde eingeschneit sein, dabei trennten mich nicht einmal zehn Minuten von meinem Ziel. Mir war zum Heulen zumute.
Der Motor röhrte angestrengt, als ich erneut versuchte, den Wagen zum Starten zu bringen. Es knatterte und ächzte, doch letztendlich halfen meine motivierenden Worte - »Komm schon, Kleiner, du schaffst das!« - reichlich wenig. Ein letzter Klagelaut war zu hören, dann erstarb auch dieser und das Licht ging aus.
»Doppel-Mist.«

24 Lichter | 2023Where stories live. Discover now