Ohne Titel Teil 1

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Der September ist ein ganz besonderer Monat.

Der September ist ein ganz besonderer Monat. Die Hitze, die im August dafür gesorgt hat, dass alle schwitzen und sich in ihren Stühlen seufzend nach hinten lehnen ist vorbei und so entschwindet auch allmählig die beinahe unerträgliche Wärme aus der Luft. Die wird durchflutet von kühlem Regen, der nachts an unsere Fenster plätschert. Der Übergang in den Herbst wird langsam sichtbar für uns. Die Blätter werden bunt und braun und lassen sich vom aufkommenden Wind umhertragen.

Mary genießt diesen Übergang jedes Jahr aufs Neue. So wie sie jeden Übergang genießt. Doch den den Herbst findet sie am schönsten. Wie in Trance geht sie morgens zur Arbeit und spürt den kühlen Wind im Gesicht und an den Ohren. Sie atmet ganz tief ein, wenn sie an Bäumen vorbei läuft und kann sich ein leichtes Schmunzeln nicht verkneifen. Es riecht so schön. Letzte Nacht hat es geregnet und alles ist noch feucht, auch die Luft.

Langsam fängt sie an den Berg zu erklimmen, über den sie gehen muss, um zur Arbeit zu kommen. Der Bahnhofsberg, so wird er genannt, ist eigentlich nur eine berghafte Brücke, die die Hauptstraße der Stadt über die Schienen führt. Es ist anstrengend ihn hinaufzugehen und manche Fahrradfahrer müssen ihr Fahrrad schieben, doch Mary stört das nicht.

Morgens steht die Sonne tief über dem Bahnhofsberg und es ist sehr windig. Im Winter kaum auszuhalten, genießt sie ihn an diesem Septembermorgen noch. Sie bleibt einen Moment lang stehen, als sie ganz oben ankommt, und hält ihre Nase in den Wind, lässt ihr kühles Gesicht von der Morgensonne wärmen. Ein Gefühl des Friedens kehrt ein, nur sie und dieser Septembermorgen im Spätsommer existieren in diesem Moment. Ihr morgendlicher Spaziergang gibt Mary Kraft, um den Arbeitstag zu überstehen, dort in ihrem Büro, wo alles trist ist und jeder sich nur um sich selbst kümmert. Das alles interessiert sie gar nicht. Die ganzen Intrigen, die ihre Kollegen umeinander rum spinnen und austragen. Sie hält sich aus sowas raus, genießt nur schweigend die Show und lebt ihr Leben. Allein. Aber sie ist deswegen weder einsam noch unzufrieden oder unglücklich. Sie kann genauso sein wie sie möchte. Niemand, der sie für ihren Charakter oder ihre Art auf etwas zu reagieren kritisiert. Niemand, vor dem sie sich rechtfertigen muss, wenn sie sich ein Buch kauft, weil sie schon so viele hat. Sie kann ganz für sich sein in ihrem Reich, in sich selbst. Diese Möglichkeit erfüllt sie jeden Tag aufs Neue.

Der Septembermorgen, der so schön angenehm war wandelt sich im Laufe des Tages und als Mary in ihrer Mittagspause am Fenster steht und einen warmen Tee in der Hand hält, fließen feine Linien Wasser an der glatten Fensterscheibe entlang. Sie lächelt. Natürlich hat sie ihren Schirm dabei und gerade beschließt sie, wenn es zu ihrem Feierabend noch regnen sollte, dass sie einen kleinen Umweg durch den Park machen würde. So kam es auch. Um fünfzehn Uhr begann auf dem Gang ein reges Treiben und Mary packt ihre Sachen zusammen. Draußen spannt sie den Schirm auf und geht los. Der Regen fällt gerade herunter und es weht nur sehr wenig Wind. Dennoch geht Mary nicht über die Brücke, denn dort weht immer Wind und sie will ihren Schirm nicht kaputt gehen lassen. Sie entscheidet sich also für den längeren Weg um den Berg und vergrößert den Umweg noch, geht durch Gassen und Nebenstraßen, bis sie in ihrem Lieblingspark ankommt.

Der Fluss zieht seicht dahin, und sein ruhiges Wasser spiegelt die Welt wider. Mary schlendert auf den gewundenen Pfaden des Parks, umgeben von herbstlichen Blättern, die im sanften Regen rascheln. Der Herbst hält Einzug in die Stadt, und die Luft duftet nach feuchtem Laub und frischer Erde.

Während sie den schmalen Weg entlanggeht, entdeckt sie unter einem Blätterdach einen Mann, der Schutz vor dem Regen sucht. Sein Gesicht spiegelt Genervtheit wider, und er starrt missmutig in den grauen Himmel. Die Regentropfen finden dennoch ihren Weg zu ihm, und er wischt sie ungehalten von seinem Gesicht. Mary nähert sich behutsam und betrachtet ihn genauer. Er hat ein markantes Gesicht und eigentlich bestimmt eine gut hergerichtete Frisur. Doch nun tropft ein bisschen Wasser von seinem dunklen Haar. Er trägt einen Anzug, der an den Schultern recht viel Regen abbekommen haben muss. Mary vermutet, er war eigentlich auf dem Weg zu einem Termin gewesen, obwohl ihr nicht klar war, wieso er ausgerechnet durch einen Park gehen sollte.
Mit einem freundlichen Lächeln tritt sie näher. "Hallo", grüßt sie und bleibt neben ihm stehen.

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⏰ Last updated: Nov 12, 2023 ⏰

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Regen im SeptemberWhere stories live. Discover now