02 Liz

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„Wo bist du denn mit deinen Gedanken?", fragte Jamie, als ich mich müde auf sein Sofa warf. Sein Wohnzimmer drehte sich ein wenig und ich fuhr mir mit der Hand über die Augen.
Ich zuckte mit den Schultern und gähnte. Es war schon wieder viel zu spät und ich war viel zu betrunken. Doch eine Sache spukte mir noch immer im Kopf herum. Ich setzte mich auf, um Jamie neugierig anzusehen.
„Was macht eigentlich dieser Harry so?", fragte ich dann und nickte mit dem Kopf grob in die Richtung, in welcher seine Wohnung ein Stockwerk unter Jamies lag.
Jamie grinste. „Ich wusste es", rief er und ließ sich frech grinsend mir gegenüber auf einen der Sessel fallen.
„Warum hast du mir nie erzählt, dass du so einen unglaublich schönen Nachbarn hast?", wollte ich wissen und seufzte bei dem Gedanken an Harrys große Hände und diesen intensiven Blick, mit dem ich mich gemustert hatte.
Jamie schnaubte.
"Ich mein es ernst. Hast du dir mal seine Augen angesehen? Und diese langen, kräftigen Finger, ich bin sicher" - "Soll ich dir einen Eimer kaltes Wasser holen?", unterbrach er mich und ich lachte.
Jamie verdrehte amüsiert die Augen.
„Ich kenn ihn doch selbst kaum, wir laufen uns ab und zu mal im Treppenhaus übern Weg und ich nehme seine Pakete für ihn an, er ist fast nie zuhause und oft lange auf der Arbeit".
„Achja, was arbeitet er denn?", fragte ich neugierig weiter und Jamie stand abwinkend auf.
„Frag ihn doch selbst, Liz. Ich bin müde".
Ich stöhnte.
„Und ich erst", murmelte ich gequält. „Ich muss in 5 Stunden in der Bahn nach Brighton sitzen, wenn ich es pünktlich auf die Arbeit schaffen will", fuhr ich fort und streifte mir umständlich die Socken von den Füßen.
Jamie reichte mir ein Glas Wasser. „Also besteht die Möglichkeit, dass du nicht hingehst?", fragte er und ich seufzte tief. Gierig nahm ich ein paar große Schlucke Wasser, ehe ich antwortete.
„In meinem Kopf ja, in Realität nein".
Ich stand vom Sofa auf, um ins Bad zu gehen und mich abzuschminken.
„Wann kündigst du endlich? Du hast einen richtigen Job, Liz". Jamie war mir gefolgt und lehnte kopfschüttelnd im Türrahmen. Ich verdrehte die Augen, spülte mein Gesicht mit klarem Wasser ab und sah ihn dann an. Wir hatten das Thema schon oft gehabt und er hatte recht. „Ich arbeite gern dort und sie brauchen mich", sagte ich trotzdem und lief zurück ins Wohnzimmer, um mich umzuziehen.
„Genau das ist dein Problem", setzte er an, doch ich zog mein Oberteil aus und warf es ihm ins Gesicht, um ihn zum Schweigen zu bringen. „Spar dir die Therapie, ich muss jetzt schlafen".
„Frechheit", schimpfte er und holte mir aus dem Schlafzimmer eines seiner Shirts, das ich als Pyjama tragen durfte.
Jamies Couch war beinahe zu meinem zweiten Bett geworden, denn wenn die Züge nachts nicht mehr nach Brighton fuhren oder ich schlicht und einfach zu faul dafür war, noch einen zu nehmen, dann stand mir Jamies Tür immer offen.
„Irgendwann bekommst du ne Schublade in meinem Schrank", murmelte er und drückte mir das schwarze Tshirt in die Hand.
„Gute Nacht", lächelte ich, drückte ihm einen dicken Kuss auf die Wange und ließ mich dann zurück auf die Couch fallen.
„Gute Nacht, Liz. Schlaf schön", sagte er und machte das Licht aus.

„Scheiße", fluchte ich und stellte die Kaffeetasse scheppernd neben dem Spülbecken ab. „Verdammte Scheiße". Mit schmerzverzerrtem Gesicht hielt ich meine gerötete Hand unter kaltes Wasser und schimpfte weiter vor mich hin.
Was war denn in letzter Zeit nur los mit mir? Gestern der Schnitt durch die Glasscherbe, heute verbrannte ich mich am Kaffee. Andauernd stolperte ich oder stieß beim Laufen gegen Türrahmen, unschuldige Passanten sowie Tischkanten. Dauernd war ich hektisch und viel zu spät dran.
„Verbrannt?", fragte Jamie, der hinter mir aufgetaucht war und sich herzhaft gähnend auf einen seiner Küchenstühle setzte.
Ich nickte, ergriff dann erneut, dieses mal etwas vorsichtiger, die Kaffeetasse und nahm einen Schluck. Dann stellte ich eine weitere Tasse vor Jamie. „Hab dir auch einen gemacht".
Er murmelte ein „Danke" und gab sich alle Mühe nicht im Sitzen einzuschlafen.
„Du hättest nicht aufstehen müssen", sagte ich deshalb und fühlte mich ein wenig schlecht. Es war Samstagmorgen und in Anbetracht des gestrigen Pubabends viel zu früh.
Er winkte ab und stand auf. Er durchforstete seine Küche und hielt mir dann einen Apfel entgegen. „Willst du was frühstücken? Ich hätte noch ein wenig sehr trockenes Brot da oder nen Apfel".
Ich schüttelte den Kopf und lehnte ab, dann warf ich einen Blick auf die Uhr und stand ebenfalls auf.
„Na komm geh schlafen, ich muss ohnehin zum Zug". Ich trank eilieg noch ein paar große Schlücke Kaffee, drückte meinem besten Freund zum Abschied einen Kuss auf die Wange und zog mir meine Jacke über.
„Bis nächste Woche?", rief ich fragend, ehe ich seine Wohnungstür hinter mir schloss. Er nickte.

Im Zug schrieb ich als erstes meiner besten Freundin Kate eine Nachricht. Sie passte auf meinen Hund auf, weil ich ihn nicht mit nach London hatte nehmen wollen. Sirius war ein großer, schwarzer, zotteliger Hund, der seinem Namen alle Ehre machte. Meine Eltern besaßen ein Hofgut in den schottischen Highlands und ihre Nachbarn, welche eine Schaffarm betrieben, hatten ihn mir geschenkt, als ich gerade meinen Schulabschluss gemacht hatte. Als ich vor fünf Jahren nach Brighton gezogen war, hatte mich Sirius natürlich begleitet und auch wenn uns Schottland fehlte, so liebten wir das Leben an der südenglischen Küste. Kate antwortete mir keine drei Minuten später, sie war gerade mit dem Zottel spazieren. Dann rief ich auf der Arbeit, einem kleinen Fish&Chips Laden direkt am Meer, an und natürlich nahm niemand ab. Der Laden gehörte Arline und William, einem älteren Ehepaar und außer ihnen und mir arbeitete niemand weiteres dort. Seit meiner zweiten Woche in Brighton war ich bei ihnen angestellt und sie waren für mich Familie geworden. Das war auch der Grund, warum ich niemals kündigen könnte, auch wenn ich mittlerweile in Arbeit ertrank. Unter der Woche ging in meinem richtigen Job nach und abends oder am Wochenende übernahm ich Schichten im Laden. Es machte Spaß, ich konnte Sirius immer mitbringen und ich war am Meer. Es könnte schlimmer sein – doch Jamie hatte recht, ich musste meine Arbeitsstunden definitiv etwas runterschrauben.Ich seufzte und sah aus dem Fenster. Eine halbe Stunde brauchte der Zug noch bis Brighton. Die Landschaft raste an mir vorbei und ich schloss müde die Augen, dann nickte ich ein.

Skinny DippingWhere stories live. Discover now