01 Harry

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Im Treppenhaus herrschte ein ungeheurer Lärm. Ich saß faul auf dem Sofa und schaute einen Film. Es polterte erneut auf der Treppe, Leute lachten. Ich drückte neugierig auf Pause, um herauszuhören, was da vor sich ging. In diesem Moment zerschellte eine Falsche auf dem Boden – daraufhin der erboste Ausruf: „Man Jamie! Das war mein Prosecco!".
Mein Nachbar Jamie hatte offensichtlich Freunde zu Besuch, die entweder gerade das Haus betreten hatten oder verlassen wollten.
Ich wartete kurz ab, dann stand ich doch vom Sofa auf, ging zur Wohnungstür und öffnete sie.
„Harry!", rief Jamie direkt und grinste verlegen. „Entschuldige, wir sind zu laut". Ich winkte ab und lächelte meinem groß gewachsenen, blonden Nachbarn freundlich zu. Er stand auf dem Treppenabsatz vor meiner Wohnung und neben ihm kniete eine blonde Frau, die gerade die Scherben einer Proseccoflasche einsammelte.
Sie hatte blondes, wildes Haar, das zur Hälfte von einer schwarzen Kapuze bedeckt wurde.
Ich musterte sie kurz, dann entdeckte ich im Treppenhaus verteilt noch weitere Freunde von Jamie. Sie waren insgesamt nur zu fünft, hatten sich aber angehört wie fünfzehn.
Ich seufzte. Ich beneidete die ausgelassene, angetrunkenen Gruppe direkt. Mir war unglaublich langweilig auf meinem Sofa gewesen und nun stand ich in der Tür, wie einer dieser einsamen Rentner.
„Liz warte, ich mach das", sagte Jamie und kniete sich neben seine Freundin.
„Fuck", fluchte diese plötzlich und ließ eine soeben aufgelesene Scherbe wieder fallen. Sie steckte sich den blutenden Finger in den Mund.
„Scheiße, Lizzie. Geht's?". Jamie legte seine Hand auf ihre Schulter.
„Voll geschnitten", nuschelte diese undeutlich, den Finger noch immer zwischen den bonbonpink geschminkten Lippen.

„Ich hab Pflaster in der Wohnung –", sagte ich unsicher, ob ich das Verbandszeug einfach holen oder Liz anbieten sollte, mit rein zu kommen.
Sie stand auf, nahm den Finger aus ihrem Mund, was viel zu sexy dafür aussah, dass sie eigentlich verletzt war und lächelte. Ich hielt ihr die Tür auf und lotste sie in die Küche, wo sie den Schnitt erst einmal unters Wasser hielt.
„Ich bin quasi Profi im Verarzten von Schnittwunden", kündigte ich an und nahm ihre Hand in meine. Fachkundig begutachtete ich die Wunde.
„So?", entgegnete sie und zog amüsiert eine Augenbraue hoch. Ihre Stimme war rau, ihr Tonfall klang komplett unbeeindruckt und doch als würde sie flirten.
„Aus beruflichen Gründen", führte ich großspurig aus und sprühte etwas Desinfektionsmittel auf ihren Finger
„Au".
Ich zuckte mit den Schultern. Sie warf mir einen finsteren Blick zu.
Ihre Hand fühlte sich kühl an und mir fielen die vielen Ringe auf, die sie trug.
„Berufliche Gründe also". Liz musterte mich und wirkte wieder komplett nüchtern. Ich ließ ihren perfekt verbundenen Finger sinken.
Sie begutachtete meine Arbeit kritisch und lehnte sich dann lässig an die Arbeitsplatte meiner Küche. Ich musterte sie, genauso wie sie mich musterte.
Unter ihrer abgewetzten Lederjacke trug sie ein beinahe transparentes schwarzes Oberteil. Sie sah cool aus und verdammt heiß.
Sicher waren sie gerade auf dem Weg zu einer Party. Wie gerne wäre ich jetzt auch auf einer Party. Oder in einer Bar. Oder zumindest nicht in Jogginghose auf meinem Sofa.
Liz Blick wurde ein wenig neckischer und mir wurde bewusst, wie nah wir noch immer beieinander standen.

„Liz! Hör auf meinen Nachbarn anzumachen und komm endlich". Jamie war im Türrahmen aufgetaucht und schüttelte den Kopf.
Liz grinste frech und ich fragte mich, ob sie das wirklich getan hatte – hatte sie mich angemacht?
Ich hätte gerne noch etwas weiter mit ihr geplaudert, sie hätte mir diesen langweiligen Abend definitiv versüßen können.
„Wollte euch nicht aufhalten", sagte ich zu Jamie und stieß mich locker von der Arbeitsfläche ab.
Es war beinahe körperlich anstrengend, meinen Blick von ihr zu lösen.
Ich begleitete die beiden noch zu meiner Wohnungstür und verabschiedete mich.
Liz hielt nochmal ihren Finger hoch, zwinkerte und sagte: „Ich schulde dir was".
Dann waren sie auch schon auf der Treppe verschwunden.

Als ich mich zurück auf mein Sofa gefläzt hatte, kam ich nicht mehr so richtig zur Ruhe.
Die Stille in meiner Wohnung machte mich wahnsinnig. Die Luft war plötzlich viel zu warm und verbraucht. Ich riss die Balkontür auf und trat nach draußen in einen schwachen Nieselregen.
Ich zündete mir eine Zigarette an.
Nach der Sache mit Poppy war ich um jede Ablenkung froh.
Poppy, man könnte wohl sagen, sie war meine erste Liebe. Wir standen kurz vor dem Schulabschluss, als wir uns ineinander verliebten und man, was waren wir verliebt gewesen. Aber wie es nun mal so ist mit der ersten Liebe, wann hält die denn schon?
Naja bei uns beiden kam ein wenig mehr dazwischen, als üblich. Das Schicksal, das Leben oder eher der Tod.
Ich schaffte es nicht, ertrug es nicht an dem Ort zu bleiben, an dem ich so gelitten hatte und so zog ich nach London. Poppy irgendwann auch. Aber wir sahen uns nicht mehr, wir redeten nicht mehr. Sie hasste mich dafür, dass ich sie im Stich gelassen hatte und ich hasste sie dafür, dass sie mich nicht verstehen konnte.

Vor etwa zwei Wochen, stand sie dann plötzlich wieder vor mir. Beinahe 7 Jahre nachdem ich sie verlassen hatte. Wir uns verlassen hatten. Sie war frisch nach London gezogen. 9 Millionen Menschen lebten in dieser Stadt und sie schaffte es mit mir in die gleiche Bahn zu steigen.Das Schicksal mal wieder. Also stand sie vor mir und ich vor ihr und wir dachten ein paar Tage lang, dass dieses Schicksal uns nichts anderes sagen wollte, als dass wir es nochmal miteinander versuchen sollten. Blöder Fehler, denn ein paar Küsse später dachte ich, dass da einfach nichts mehr war und Poppy, dachte das Gegenteil. Ich sagte dieses Mal die Wahrheit, bevor ich ging und sie hasste mich nicht, aber ich fühlte mich schrecklich und so einsam wie nie zuvor. Ich bereute meine Entscheidung nicht, ich liebte sie nicht mehr, wir waren eben nicht mehr die, die wir mit 18 gewesen waren. Doch hin und wieder fragte ich mich, ob es nicht leichter gewesen wäre. Hätte ich es nochmal versucht, mein Bauchgefühl mit Vernunft übertönt, dann säße ich jetzt nicht allein hier.In schwachen Momenten wie diesem hatte ich Angst davor unfair zu werden. Ich wusste, dass ich sie nur anzurufen brauchte und schon wäre sie hier. Würde meinen Abend ein bisschen weniger einsam machen.

Skinny DippingWhere stories live. Discover now