2. Kapitel: Das Ginger Dove Diner

Start from the beginning
                                    

Wynona hatte ihm eine Cargohose mit vielen Taschen gegeben, wie ihre eigene. Das Sweatshirt, den sie ihm aus ihren eigenem Kleiderschrank gegeben hatte, war kratzig und roch irgendwie chemisch. Außerdem war es nicht wirklich ein Sweatshirt, sondern ein leichter Rollkragenpullover, aber Seraphim würde lieber den Horror des letzten Abends in Dauerschleife erleben, als kleinlich zu sein und sich zu beschweren. Die Jacke schenkte ihm dafür ein wenig Wärme, auch wenn sie sehr dünn war.

Von der Begeisterung vom Vorabend war nichts mehr verblieben. In der Tagessonne konnten die bunten Lichter der Stadt nicht mehr von der brutalen Hässlichkeit ablenken. Der Dreck und die gelblich angehauchte Luft waren nun nicht mehr zu übersehen. Selbst die Musik, die aus den verschieden Lokalen und Läden ertönte, schaffte es nicht, denselben verführerischen Eindruck zu erwecken, der in der Nacht mit Leichtigkeit erweckt wurde.
Allerdings ließen die Menschen ihn in Frieden und starrten nicht mehr, oder ließen es sich nicht anmerken; Seraphim verschmolz nicht unbedingt in der Masse.

Die Anzahl an Menschen war überwältigend, sodass sich Seraphim fragte, ob vielleicht ein Festival in der Stadt anstand. Sie liefen auf ihn zu, rempelten ihn gelegentlich an, sammelten sich in scheußlich riechende Gassen. Seraphim beobachtete an einer Bordsteinkante ein gepierctes Kind, welches sich bückte um eine Nacktkatze zu streicheln.
Jeder sah auf eine Weise gänzlich anders aus als die anderen, aber Seraphim beobachtete eine Luke, wie ein Anschluss, an den inneren Handgelenken jedes Einzelnen. Er schüttelte sich vor dem Gedanken, etwas so nah an seine Pulsschlagader reinbohren zu lassen. Er überlegte sich, Wynona dazu zu befragen, falls er nicht selber auf den Nutzen kam.

"Dir hat es die Sprache verschlagen, oder? Ich frag mich woher du kommst, dass du so leise bist", rief Wynona vor ihm, die ihn durch die Straßen führte. Seraphim öffnete und schloss seinen Mund, wie ein fressender Fisch, der alles einsaugte, und ihm fiel keine Antwort ein. "Ich weiß nicht."

Sie schenkte ihm einen mitleidigen Blick. "Du hast nicht gegessen, oder? Im Diner mach ich dir eine Portion Pancakes. Magst du Himbeeren?"

❏ ❐ ❑ ❒ ❏ ❐ ❏ ❐ ❑ ❒ ❏ ❐

Seraphim mochte Himbeeren sicherlich, wieso denn nicht, doch was auch immer die Kugeln auf seinem Teller waren, waren in keiner Welt Himbeeren. Sie waren noch fast grün, zäh wie Gummi, und schmeckten wie Gelee. Die Pancakes waren unaushaltbar süß und die Vanillesauce zog sich wie Heißkleber. Wynona hatte ihn im Diner an einen Ecktischsitz gedrückt, ihm die Pancakes in wenigen Sekunden bereitgestellt und war in die Küche verschwunden. "Ich sage kurz drinnen Bescheid, ja?"
Seraphim bedankte sich und nickte nur, keinen blassen Schimmer wovon sie redete oder wem sie was Bescheid geben sollte.

Das kleine Diner war von außen wie ein Halbkreis angelegt, den Umständen entsprechend schlicht und sauber gehalten. Auf dem Dach war eine Hologrammprojektion angebracht, eine große, rote Taube, die mit den Flügeln schlug. Innen stand auf den Menüboards "Ginger Dove Diner". Seraphim gefiel es. Er bemerkte die grünen Augen, die jede seiner Bewegungen aus der schattigen Ecke des Diners inspizierten, nicht.
Die Pancakes standen beinahe unangerührt vor ihm, während er von den leuchtenden Fliesen, den quitschenden Möbeln und den technischen Bediensteten abgelenkt wurde. Androiden in solch einer Ausformung waren ihm zuvor komplett unbekannt;
Sie waren von echten Menschen kaum unterscheidbar, wenn man das KI-Siegel auf den Klamotten übersah. Im Gesicht hatten sie Poren, die Haare fielen in Strähnen und die Blinzelmechanik war einwandfrei. Man erkannte, nur wenn man genauer hinguckte, dass die Ohrmuscheln nicht fest genug saßen oder die Stimmen ein wenig zu melodisch klangen. Kleine Makel, die bei teureren Modellen beseitigt wurden, um das Gefühl loszuwerden, mit einer Maschine zu reden.
Seraphim kannte davor nur lustige Aluminiummodelle mit stilisierten Hüften und Smileys als Gesichter, die immer nur dieselben Sätze wiederholten, anstatt ihre Umgebung wahrzunehmen und ungekünstelte
Gespräche führten.

Identity: Lost PurposeWhere stories live. Discover now