Das geheimnisvolle Zimmer (1)

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BRD, Herbst 1980

Wie gebannt verfolgte Kiki das wundersame Schauspiel, das sich ihr auf dem Schreibtisch darbot, der im Zimmer am Fenster stand, in dem Haus, das sich in einem Dorf befand, in einem Land auf diesem Planeten namens Erde. Sie sah ein Meer von scheinbar zufällig verstreuten Blättern, die leer und doch nicht leer waren. Wie von Zauberhand entstanden auf ihnen surreale Bilderwelten voller Fantasie und Mysterien, als wollten sie ihre eigenen Geschichten erzählen. Kiki konnte sich gar nicht genug sattsehen an den leuchtenden Farben und seltsamen Formen, die sich vor ihren Augen entfalteten. In diesem magischen Moment fühlte sich wie in einem Märchen, in dem Realität und Fantasie miteinander verschmelzen.

Noch benommen von dem Anblick trat sie ans Fenster. In der erhabenen Weite des klaren Himmels erblickte sie die majestätische Sonne, deren goldenes Licht den ganzen Raum durchflutete. Kiki empfand eine tiefe Ruhe und Geborgenheit in diesem warmen Glanz. Sie sah die kupfergerahmten Buntglasbilder, die sich klirrend vor den Scheiben bewegten. Der Wind hatte sie durch den Spalt des gekippten Fensterflügels berührt. Kiki begriff, dass sie der Grund für das Farb- und Lichtspiel auf dem Schreibtisch waren.

Der Herbstwind ließ einige vergängliche Blätter am Fenster vorbeitanzen, wie Schmetterlinge mit blassgelben Flügeln auf ihrer kurzen Reise. In ihrem Tanz schien eine geheime Ordnung zu liegen, ein wohldurchdachter Plan. Jede Bewegung, jede Drehung und Wendung schien eine Bedeutung zu haben. Einige von ihnen tanzten synchron wie im Ballett, wie von unsichtbarer Hand gelenkt, als folgten sie einer bestimmten Gesetzmäßigkeit, als würden sie eine eigene, verschlüsselte Sprache sprechen. Kiki konnte die Worte zwar nicht verstehen, aber sie erahnte die Bedeutung hinter den flüsternden Bewegungen. Sie spürte, dass die Blätter Teil eines großen Ganzen waren, dass sie eingebettet waren in den Rhythmus der Natur.

Kikis Augen wanderten von einem Blatt zum nächsten, während sie versuchte, die verborgene Botschaft zu entziffern. Plötzlich erkannte sie, dass alles in dieser Welt miteinander verbunden und nichts dem Zufall überlassen war. Die Blätter im Wind waren wie die Worte eines Poesie-Bandes, die ihr die Schönheit des Herbstes verkündeten. Sie führten ihr vor Augen, wie kostbar und einzigartig jeder Moment und jedes Detail im Leben ist. Kiki beschloss, von nun an in allen Dingen eine Bedeutung zu sehen, egal wie klein oder unscheinbar sie auch sein mochten.

Doch mit jedem Moment, den Kiki in dieser zauberhaften Umgebung verweilte, spürte sie eine leichte Unruhe in sich aufsteigen. Die märchenhafte Realität wich langsam einer nüchternen Gewissheit. Sie befand sich in einem ihr unbekannten Zimmer, umgeben von Dingen, die nicht ihr gehörten. Was war hier los? Was war mit ihr geschehen? Sie konnte sich an nichts erinnern! Dennoch überkam sie keine Angst oder Panik. Sie fühlte sich hier fremd, aber gleichzeitig auch geborgen.

Aus der Ecke neben der Tür vernahm sie ein schwaches, pulsierendes Geräusch, vermischt mit einem leisen Knacken und Rauschen. Dort sah sie einen alten Ölofen stehen, der die behagliche Wärme in dem Raum erzeugte. Irgendetwas an ihm zog sie magisch an. Kiki begab sich zu ihm hin und berührte zaghaft mit den Fingerspitzen seine hellbraune Blechverkleidung, als wäre er ein Wesen aus einer anderen Welt.

Als sie spürte, dass er nicht zu heiß war, drückte sie beide Handflächen auf das Metall. Die Hitze durchdrang ihre Haut und sie registrierte, dass die Oberflächentemperatur des Ofens exakt 48 Grad Celsius betrug. Kiki war überwältigt von dieser Erfahrung. Wie konnte es sein, dass sie über eine Fähigkeit verfügte, von der sie bisher nicht die geringste Ahnung hatte? Sie fragte sich, ob es sich vielleicht um eine seltene Gabe handelte. Auch die Raumtemperatur konnte sie perfekt einschätzen; sie betrug 21 Grad Celsius.

Kiki überlegte, ob sie nach einem Thermometer suchen sollte, um die gefühlten Temperaturen mit den tatsächlichen zu vergleichen, verwarf den Gedanken aber sofort wieder. Sie wusste, dass sie richtig lag – und fragte sich sogleich, warum sie sich dessen so sicher war. Sie dachte darüber nach, wozu diese Begabung nützlich sein könnte. Vielleicht, um Fieber zu messen? Doch eine Zukunft als wandelndes Fieberthermometer mochte sie sich nicht vorstellen, nicht bei dem Gedanken, in welche Körperöffnungen sie dazu ihre Finger stecken müsste. Nein, sie beschloss, vorerst niemandem von ihrem neu entdeckten Talent zu erzählen!

Kiki verschwendete keinen weiteren Gedanken an diese merkwürdige Erfahrung, denn etwas anderes hatte ihre Neugierde geweckt. Es war der kreisrunde, gusseiserne Deckel des Ofens, von dem sie wusste, dass er auch dem Warmhalten von Speisen und Getränken dienen konnte. Sie wollte unbedingt wissen, welches flammende Inferno sich in der Brennkammer darunter abspielte. In einem Gegenstand, der die Macht besaß, einen ganzen Raum mit Wärme zu füllen, konnte nur ein gewaltiges Flammenmeer toben, mutmaßte Kiki.

Um an den Deckel zu gelangen, musste sie jedoch zunächst den Schutzrost hochklappen, der die Oberseite des Ofens abdeckte. Als sie dies getan hatte, entdeckte sie in der Mitte eine schwenkbare Abdeckblende in der Größe einer Münze. Sie drehte die Blende zur Seite und konnte nun durch ein Guckloch in die Brennkammer hineinschauen. Doch welche Enttäuschung! Anstatt eines flammenden Infernos sah sie nur einen ruhig flackernden Ring aus gelben Flammen, der von einem größeren Ring aus sanftem, blauen Licht umgeben war.

Der Anblick des Flammenrings rührte an einer Erinnerung, die tief in ihrem Gedächtnis vergraben lag und weit in die Vergangenheit zurückreichte. Ein intensiver Geruch lenkte Kiki jedoch davon ab, sie wieder aufleben zu lassen. Er kam von einer Ölpfütze am Einfüllstutzen des Tanks. Sie ignorierte ihn zunächst. Als dann aber auch aus der Brennkammer etwas in ihre Nase drang, das ihr den Atem nahm, fiel ihr ein, dass eine Mischung aus Hitze und schädlichen Gasen einen ja besinnungslos machen konnte. Und genau das geschah in diesem Moment mit ihr. Sie ärgerte sich darüber, dass sie die Gefahr nicht rechtzeitig erkannt hatte. Aber es war zu spät, um noch reagieren zu können. Kiki spürte, wie sie die Kontrolle über ihren Körper verlor. Sie sackte betäubt zu Boden und versank in einen seltsamen Traum ...

Die Wirren des SeinsUnde poveștirile trăiesc. Descoperă acum