Kapitel 6

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Ich ignoriere alles was mit Noah zu tun hat, als ich am Sonntag aufstehe. Was auch gar nicht so schwierig ist, immerhin gibt es genug andere Probleme, mit denen ich mich beschäftigen kann. Zum Beispiel mein vermasselter Mathetest, den ich Mom letztendlich beichten muss, als sie mich am Frühstückstisch direkt darauf anspricht.

Die Reaktion fällt wie erwartet aus. Ihr freundliches Lächeln wird zu einem strengen Blick und die restliche Zeit darf ich mit ihr aufarbeiten, was in dem Test schief gelaufen ist. Meine Ausrede, dass der Taschenrechner einen Zahlendreher gehabt haben muss, bringt sie leider nicht zum Lachen. Stattdessen werde ich mit einem rügenden „May" zur Ordnung gerufen und muss genau erzählen, wo meine Fehler lagen. Das fühlt sich ungefähr so gut an wie eine Wurzelbehandlung und am Ende zweifle ich an meinem allgemeinen Matheverständnis. Früher hätte sich Dad eingemischt und Mom in ihrer Tirade über die Wichtigkeit der Schule unterbrochen. Er hätte ihr eine Hand auf den Arm gelegt und ganz ruhig angeboten, dass er sich heute Mittag etwas Zeit nimmt und sich zusammen mit mir die Aufgaben anschaut. Er war quasi seit der vierten Klasse mein persönlicher Mathenachhilfelehrer und auch wenn das Letzte was ich will ist, ihn zu vermissen oder gar zu brauchen, merke ich ein beklemmendes Engegefühl in meinem Hals, während ich mein Brötchen runterwürge.

Aber jemand, der seine Familie für etwas Spaß aufgibt, hat keine Trauer verdient und so setze ich jedem traurigen Gedanken einen wütenden entgegen, bis ich Zähne knirschend hoch in mein Zimmer stapfe und mich an den Schreibtisch setze. Ich werde dieses Zeug schon irgendwie verstehen, auch ohne Dad. Ohne seine geduldige Art, während er mir alles nochmal von vorne erklärt, oder sein leises Räusperern, um mich auf einen Fehler beim Rechnen aufmerksam zu machen, damit ich ihn selbst finden kann, anstatt Mal wieder eine Aufgabe falsch zu haben.

Ich brauche ihn nicht, auch nicht als ich zwei Stunden später wütend meinen Stift durchs Zimmer pfeffere und mich mit brennenden Augen ins Bett fallen lasse, um nicht mehr die zig durchgestrichenen Rechenwege auf dem Arbeitsblatt zu sehen. Für was braucht man schon Mathe? Ich kann addieren, subtrahieren, multiplizieren und dividieren. Das reicht, um durchs Leben zu kommen, zumal es heutzutage doch eh Handys mit Rechenfunktion gibt. Aber Vektoren und Matrizen? Ich habe nicht vor, einen Job zu verfolgen, wo so ein Mist relevant ist. Da werde ich lieber Putzkraft.

Ich ignoriere das Brennen in meinen Augen, als ich mich auf die Seite wälze und mein Handy entsperre.

Ich: Lust auf einen Eiskaffee?

Evas Antwort lässt kaum eine Minute auf sich warten.

Eva: Ähm... immer!

Mit einem Lächeln richte ich mich auf und schicke ihr den Screenshot von einer Verbindung, mit der ich zu ihr fahren kann. Ihren Daumen nach oben warte ich erst gar nicht ab, sondern suche mir eine zerrissene Jeans zusammen mit einem weißen kurzgeschnittenen Top aus meinem Kleiderschrank heraus. Dazu meine Sonnenbrille und eine kleine schwarze Tasche und schon bin ich auf dem Weg nach unten, ohne einen weiteren Blick auf meinen Schreibtisch zu werfen.

Aus dem Wohnzimmer ist meine Mom zu hören, wie sie mit jemandem telefoniert, was in mir die Hoffnung weckt, ihr nicht großartig erklären zu müssen, wo ich hin will. Allerdings hat meine Mom einen sechsten Sinn wenn es um Heimlichtuereien geht, auch wenn ich so lässig wie möglich zur Haustür laufe.

„May? Wo gehst du hin?"

Fast am Wohnzimmer vorbei, stoppe ich mitten im Schritt und verkneife mir ein genervtes Stöhnen. Als ich mich umdrehe, ziert ein nettes Lächeln mein Gesicht.

„Ich treffe mich mit Eva auf einen Eiskaffee."

Eine Hand auf dem Hörer, um ihren Gesprächspartner nicht mit diesem unnötigen Mutter-Tochter-Gespräch zu behelligen, kommt Mom auf mich zu und lehnt sich an den Türrahmen zwischen Wohnzimmer und Diele.

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