Das Haus am See.

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»Du fährst nicht, Raven!«

Ich stehe vor dem Haus am See. Mein Blick wandert zum Fenster der oberen Etage zur rechten Seite, aber am Fenster ist weit und breit nichts zu sehen.

»Wenn du fährst, dann brauchst du nicht wiederkommen!«

Langsam gehe ich auf die Haustür zu und lege meine Hand um die kalte Türklinke. Während ich einen tiefen Atemzug nehme, schließe ich die Augen und kratze all meinen Mut zusammen.

»Du verstehst nicht, dass dort ein gefährlicher Geist sein Unwesen treibt!«

Mit einem Ruck drücke ich die Klinke hinunter, doch die Tür ist verschlossen. Suchend schaue ich unter die modrige Fußmatte, doch ich finde keinen Ersatzschlüssel.

»Ich mach mir doch nur Sorgen, Raven. Was ist, wenn ich dich nicht mehr wiedersehe?« - »Du hast doch gerade selbst gesagt, dass ich nicht wiederkommen brauche!«

Seufzend lasse ich von der Tür ab und drehe mich zum See um. Ich erinnere mich an meinem Traum, in dem ich fast ertrunken wäre. Der junge Mann ist nirgendwo mehr aufgetaucht und ich bin mehr als nur froh darüber.

»Das war nicht ernst gemeint, Kind! Ich will dich nur schützen!«

Die Stimme meiner Mutter spukt mir im Kopf herum, die Sätze von unserem Streit ertönen immer wieder und übertönen fast alles. Alles, nur das seltsame Rauschen in meinen Ohren nicht.

»Du solltest nie wieder zu diesem See gehen, Raven. Am besten nie in die Nähe des Sees geschweige denn Hauses!«

Kopfschüttelnd nähere ich mich dem See. So ganz kann ich nicht verstehen, was in dem Kopf meiner Mutter vor sich ging. Wovor hat sie Angst?

»Was muss ich machen, damit du nicht gehst?«

Der See ist ruhig, das Wasser unklar und der Himmel dunkel. In Sekundenschnelle sind Gewitterwolken aufgezogen, aber es regnet noch nicht.

»Du kannst gar nichts machen, denn ich werde gehen.«

Ich sehe mein Spiegelbild an und erkenne plötzlich das Gesicht eines Kindes. Es ist nicht irgendein Gesicht, sondern meins.

»Raven, ich habe Angst, dass dir etwas zustößt ... sei doch vernünftig, Liebes.«

Erinnerungsfetzen kommen mir in den Sinn. Ich sehe mich, als kleines Mädchen, strampelnd im Wasser, nach Luft ringend. Sie versucht alles, um nur nicht unterzugehen. Doch genau das passierte – sie kam einfach nicht mehr hoch.

»Du bist mein einziges Kind, Raven, ich möchte dich einfach nicht verlieren. Nicht, nachdem ich dich schon mal fast verloren habe.«

Man sieht Luft im Wasser aufsteigen, so, als würde die ganze Luft aus der Lunge des kleinen Mädchens weichen. Sie ertrinkt. Sofort wende ich den Blick ab, denn es ist nur eine Halluzination. Nur eine Halluzination.

»Ach ja, Mom? Wann hast du mich dann schon mal fast verloren?«

Ein Donnergrollen ertönt und der Regen lässt nicht mehr länger auf sich warten. Sofort stelle ich mich auf die Veranda, um nicht all zu sehr nass zu werden.

»Du wärst als Kind fast im See ertrunken, Raven.«

Blitze zucken am Himmel auf und ich kann mir vorstellen, dass das Gesamtbild gruselig aussieht. Als es laut knallt, zucke ich erschrocken zusammen und reibe mir über die Oberarme.

»Bitte, Raven...«

Hinter mir ertönt ein Knarren und ich mich rasch um. Die Tür steht ein Stück offen. Sie war doch abgeschlossen?

»Was ist da? Wieso versuchst du es zu verhindern? Nur weil es heißt, dass es dort spukt? Dass da ein Geist oder Dämon sein soll?! Ich glaube nicht an Geister!«

Leise gehe ich auf die Tür zu, stoße sie vorsichtig auf und schaue in einen Flur. Nichts. Einfach nichts Auffälliges.

»Du wirst nicht lebend aus dem Haus kommen.«

Eine Gänsehaut breitet sich auf meinen Oberarmen aus, als ich daran zurückdenke. Die Stimme meiner Mutter war so kühl, so trocken ... einfach verbittert.

»Sei einmal in deinem Leben vernünftig, Raven Lee!« - »Ich war bisher immer vernünftig, Mutter!«

Langsam schreite ich ins Haus, schaue mich um und muss feststellen, dass alles ganz normal ist. Stinknormal. Langweilig.

»Ich habe die Schnauze voll davon, dass du mir einfach alles vorschreibst! Mein Gott, ich bin 20 Jahre alt uns somit volljährig! Es ist mir egal, was du willst, ich mache jetzt mein Ding und werde hinfahren!«

Warum hat sie sich solche Sorgen gemacht? Warum? Hier ist nichts. Neugierig, ob sich oben etwas befindet, laufe ich die Treppen rauf. Irgendein strenger Geruch steigt mir in die Nase, doch ich lasse mich nicht beirren, sondern gehe den Flur entlang. Hier und da öffne ich eine Tür. Eigentlich wollte ich weitergehen, doch ich bleibe an Ort und Stelle stehen. Es ist mein altes Zimmer. Mit gerunzelter Stirn gehe ich in die Mitte des Raumes und drehe mich einmal um meine eigene Achse. Die Wände sind dunkel, sieht modrig aus. Im schwachen Licht erkennt man, dass die Wände in einem zarten Rosa gestrichen wurden. Wie konnte ich damals nur auf Rosa stehen?

»Ich sage es ein letztes-« – »Nein! Vergiss es, Mutter, ich fahre und du kannst mich nicht davon abbringen!«

Es steht eine Kommode im Zimmer, sie sieht ein wenig älter aus. Ich mache mich sofort daran die Schubladen der Kommode aufzuziehen, allerdings sind die ersten Schubladen leer, die Dritte allerdings hat ein paar Gegenstände in sich. Vorsichtig nehme ich einen Bilderrahmen und schaue es mir an. Nichts besonderes ist daran zu sehen, dann wische ich über das sehr verstaubte Glas. Zum Vorschein kommt ein altes Bild. Von mir – und ein junger Mann sitzt neben mir. Allerdings sieht man seine Gestalt nur verblasst. Er hat braunes Haar, soweit ich erkennen kann, und ein sympathisches Lächeln auf den Lippen. Mein kleineres Ich redet mit ihm, sieht ganz angeregt im Gespräch aus. Sein Blick strahlt Wärme aus, er schien in diesem Moment glücklich gewesen sein. Aber wieso ist seine Gestalt so verblasst?

»Raven! Ich warne dich!«

Kopfschüttelnd stelle ich das Bild auf die Kommode und wende mich ab, um den Flur weiter entlang zu gehen. Im Flur gehe ich weiter, öffne wieder ein paar Türen – doch die letzte Tür wünsche ich mir nie geöffnet zu haben. Mein Frühstück scheint meinen Magen verlassen zu wollen, als ich eine verweste Leiche auf dem Boden liegen sehe. Erschrocken über den Anblick knalle ich die Tür zu und taumle einige Schritte zurück. Das kann doch nicht wirklich gewesen sein. Eine Leiche liegt dort niemals. Allerdings erscheint in meinem Blickfeld wieder die Leiche, als ich die Tür geöffnet habe, aber sofort wieder schließe.

»Mutter, du kannst mich einfach nicht davon abbringen, ohne handfeste Beweise zu haben, dass ich da wirklich nicht mehr lebend herauskomme. Verstanden?« – »Nein.«

Auf einmal wird mir schwindelig und ich taumle die Schritte zur Treppe. Schritt für Schritt gehe ich runter. Ich möchte mich einfach nur in mein Auto setzen und mich beruhigen. Wer zur Hölle ist diese Leiche?!

»Dann eben nicht. Jetzt weiß ich, von wem ich meinen sturen Kopf habe.«

Wieder lege ich meine Hand um die Klinke und will die Tür öffnen, doch mir stockt der Atem, als ich merke, dass sie verschlossen ist. Wie eine Verrückte rüttle ich an der Tür, aber als ich sie sich immer noch nicht öffnen lässt, versuche ich einen anderen Weg nach draußen zu finden, allerdings komme ich nicht weit.

»Dann wird es ein Abschied für immer sein, Raven.« – »Wie kannst du so etwas als meine Mutter sagen?« – »Weil es die Wahrheit ist.« – »Ist es nicht!« – »Hör auf zu streiten, Raven.« – »Wieso? Du hast doch angefangen mich anzuschreien, nur weil ich zum Haus am See fahren will!«

Vor mir steht direkt ein junger Mann, seine Augen leuchten in einem intensiven blau, er sieht zornig aus. Mein Atem geht nur noch stoßweise. »Louis«, höre ich mich selbst hauchen, ehe ich von kompletter Dunkelheit umgeben bin und keinen Boden mehr unter den Füßen finde. 

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