Der Baum, der seine Wurzeln suchte

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Es war einmal ein kleines Bäumchen in einem Dorf weit von der Zivilisation entfernt. Das Bäumchen lebte im Garten einer dreiköpfigen Familie. Die kleine Zwergthuja fühlte sich in ihrem Heim sehr wohl, doch eines Tages begann ein Gedanke an ihr zu nagen, der ihr keine Ruhe mehr ließ: Wo komme ich her? Dieser Gedanke sägte an ihrem ganzen Stamm; die Last des unerbittlichen Frusts über die Unbekanntheit ihres Herkunftsortes schlich sich tief in ihre Wurzeln.

Eines friedlichen Frühlingsmorgens hielt das Bäumchen dem Druck der Ungewissheit nicht mehr stand. Das brennende Verlangen seine ursprüngliche Herkunft zu finden, welches Anfangs nur einer schwelenden Glut ähnelte, erreichte seinen Höhepunkt und das Bäumchen konnte nicht anders, als das Gärtchen zu verlassen und sich auf die Suche zu machen; auf die Suche nach seiner wahren Heimat.

Die kleine Zwergthuja machte sich auf den Weg. Auf ihrer Reise durch das Tal machte sie nach kurzer Zeit mit einem Forstwald Bekanntschaft. Das Bäumchen war zunächst verwirrt und gleichzeitig erstaunt: Alle Bäume waren groß; fast so groß, dass ihre Kronen bis zu den Wolken reichten. Während die Zwergthuja sich ihren Weg durch den Wald bahnte, wurde sie von einem der großen Bäume angesprochen: „Kleines Bäumchen, was machst du hier?" Die Zwergthuja wandte ihm ihre Aufmerksamkeit zu und sprach: „Ich möchte wissen, wo ich herkomme. Oh bitte sag' mir, großer Baum. Gehöre ich zu euch?" Der Baum hörte ihm genau zu und antwortete mit einem spöttischen Lachen: „Bist du noch ganz bei Sinnen? Sieh' dich doch selbst an! Klein, unbeholfen und armselig. Traurig, traurig, das ist wahr. Nein, zu uns gehörst du nicht." Gedemütigt und bedrückt verließ das Bäumchen den Forstwald. Seine Reise ging noch etliche Meilen weiter.

Von weitem sah die kleine Zwergthuja den Anfang eines weiteren Waldes; ein Wald voller Birken und Eichen. Als das Bäumchen diesen betrat, wurde es abermals angesprochen. „Kleines Bäumchen, was machst du hier?", fragte ihn eine der unzähligen Eichen. Die kleine Zwergthuja blickte hoffnungsvoll hinauf zur Krone des mächtigen Baumes und sagte: „Ich möchte wissen, wo ich herkomme. Oh bitte sag' mir, großer Baum. Gehöre ich zu euch?" Die Eiche sah sie verwirrt an und sprach: „Sieh' dich um. Ähnelst du uns? Nein, gewiss nicht. Wir sind groß, mächtig und stark. Du bist winzig, karg und siehst ganz anders aus, als wir. Unsere Äste sind geschmückt mit prächtigen Blättern, deine nicht. Hinfort mit dir! Du hast hier nichts zu suchen!" Enttäuscht zog das Bäumchen weiter; sein letzter Funken Hoffnung drohte zu verglühen.

Der Tag neigte sich dem Ende zu. Die Sonne verschwand am Horizont und der Himmel verfärbte sich ein wunderschönes Abendrot. In einem weiteren Wald angekommen, machte sich das Bäumchen nicht die Mühe weiterzugehen. Es ließ sich inmitten des Waldes nieder und suhlte sich in Selbstmitleid. „Oh warum nur?", fragte es sich. „Oh warum nur? Warum kann mir niemand sagen, wo ich hingehöre?" Einer der Bäume, ein prächtiger Ahornbaum, hörte das Schluchzen der kleinen Zwergthuja und fragte mit einem ruhigen Ton: „Kleines Bäumchen? Warum weinst du?" Das Bäumchen blickte hinauf und sprach: „Oh großer Baum, ich bin zutiefst bedrückt. Ich weiß nicht wo ich herkomme und wo mein Platz in dieser Welt ist. Ich wurde bis jetzt immer nur verspottet und weg geschickt; ausgelacht und traktiert. Ich glaube, ich habe hier nichts verloren." „Kleines Bäumchen", sprach der Ahornbaum. „Ich sehe, deine Wurzeln sind verankert in einem braunen Keramiktopf. Sag' mir: Wo bist du hergekommen?" Die Zwergthuja sah den großen Baum nachdenklich an und antwortete: „Ich komme aus einem kleinen Dorf; aus einem wunderschönen Gärtchen, der einer großzügigen Familie gehört." „Und siehe da", sagte der Ahornbaum. „Deinen Platz hast du schon längst gefunden; in diesem Dorf; in diesem Garten. Geh' zurück und bleibe dort. Zuhause ist, wo du dich geborgen fühlst." Die Zwergthuja sprang auf und rannte sofort los. Zuhause; ja, zuhause; dort war sie schon immer gewesen.

Angekommen in der Heimat, saß der Sohn der Familie im Garten; kniend an dem Fleck, an dem einst das Bäumchen stand. „Oh kleines Bäumchen", schluchzte er. „Wo nur bist du? Warum hast du uns verlassen?" Die Zwergthuja näherte sich dem weinenden Jungen. „Ich bin hier, mein Freund. Ich bin zurück von meiner Reise." Der Junge begann zu lächeln und hüpfte voller Freude im Kreis. „Du bist da! Du bist da, alter Freund! Endlich bist du wieder zuhause!", jubelte er und nahm das Bäumchen in den Arm.

Nun war sich das Bäumchen sicher; es konnte es genau erkennen: Es hatte seine Wurzeln bereits vor langem gefunden.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Apr 30, 2023 ⏰

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