18 - EIN EINGEFRORENES JAHR

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»Tut mir leid, ich-«, bin sprachlos. Da ist so viel, was ich sagen möchte, um ihm seinen Kummer zu nehmen. Es wird nur nicht ausreichen.

»Yuna, bitte. Ich ertrage es nicht, dich zu sehen. Am liebsten würde ich dich an mich ziehen und nie wieder loslassen. Aber das darf ich nicht, weil das bedeuten würde, ich würde seinen Vorschlag akzeptieren. Und das tue ich nicht.«

Keine Ahnung, von welchem Vorschlag er spricht, aber es wird um Junis gehen – um seinen Tod. Also renne ich ihm nicht hinterher, als er die Schule verlässt. Etwas anderes bleibt mir kaum übrig.

𑁍 𑁍 𑁍

5 Monate später

Er arbeitet wieder in der Schule, in einer siebten Klasse, während ich mich in der Dritten einlebe. Im Lehrerzimmer laufen wir uns über den Weg. Manchmal erwische ich ihn, wenn er alleine ist, wie er das Lehrwerk aufgebracht in die Ecke schmeißt. In solchen Situationen bleibt mir nicht viel übrig, außer den Raum zu verlassen.

Am Donnerstag steht die Tür zu unserem Lehrmittelraum offen. Jemand knallt mit voller Inbrunst die Schranktüren und wühlt drin herum. Durch das Fluchen erkenne ich sofort, dass Julian dort ist. Fast wäre ich weitergegangen, doch dann höre ich, wie er Selbstgespräche führt - und ich sorge mich. »Das ist alles deine Schuld. Ich verbocke es deinetwegen. Davor hat es wenigstens ein bisschen funktioniert.«

Meint er mich? Oder sieht er Junis' toten Geist? Hoffentlich nicht Letzteres. Wie kann ich ihn davon überzeugen, dass nicht alles in seinem Leben schief läuft? Mein Räuspern lässt ihn zusammenzucken, scheinbar hat er sich wirklich mit einem toten Geist unterhalten.

»Nein«, faucht er. »Ich finde die verfluchten Landkarten nicht. Und mein Unterricht ist scheiße. So richtig. Noch grauenvoller als zu dem Zeitpunkt, wo du meintest, ich soll mich mal mehr ins Zeug legen.«

»Das nimmt dir keiner übel«, murmele ich.

»Sollten sie aber! Das ist schließlich mein Job.« Er räumt weiterhin Lehrbücher aus den Regalen, um sie auf den Schrank drauf zu stapeln. Ich vermute, selbst wenn hier irgendwo Landkarten existieren, würde er sie vor blinder Wut nicht finden. Daher stelle ich meine Tasche ab, öffne die andere Seite und helfe ihm beim Suchen. Er spannt sich an, deshalb weiche ich aber nicht von ihm ab.

Frustriert lässt er den Kopf gegen das Regalbrett sinken. »Ist okay. Ich vermisse ihn auch«, entfährt es mir.

Durch den Kommentar bebt sein Oberkörper nur noch stärker. Seine Hände zittern unkontrolliert, bis ihm erneut Tränen über die Wangen laufen. Ich bin mit der Situation überfordert. Gerne würde ich ihn trösten, nur habe ich Angst, damit eine Grenze zu überschreiten. Ich wende mich ihm lediglich zu, als Zeichen für ihn da zu sein, falls er mich braucht.

So hemmungslos, wie er gerade am Schluchzen ist, spielt es ohnehin keine Rolle. Sein Verstand ist ausgeschaltet. Ihm ist völlig egal, wer ihn in diesem Moment auffängt – also nehme ich ihn in den Arm. Das beruhigende Tätscheln auf seiner Schulter hilft nur bedingt. An meinem Brustkorb pulsiert sein Herz. »Nichts ist okay«, schnieft er nach einer Weile, wo er sich ein kleines bisschen beruhigt hat. »Ich habe einen Schüler in der Klasse, der nicht nur wie Junis aussieht. Er verhält sich genauso. Jeden Tag sehe ich ihn, aber irgendwie auch nicht.«

Meine Kehle schnürt sich zu. Es ist grauenvoll, wie er leidet. »Du wirst dich für den Rest deines Lebens an Junis erinnern und ihn in allen möglichen Menschen oder Dingen sehen. Das ist normal und bedeutet nur, dass du ihn sehr geliebt hast.«

Er vergräbt seine Nase weiter in den Stoff meines T-Shirts. »Ich träume oft von ihm. Wie er mir vorwirft, dass ich sein Versprechen nicht einhalte.«

NOT this time [ONC]Where stories live. Discover now