10. Im Garten des Feindes

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Die Wipfel der Bäume wogen sich im Wind wie Schiffe auf hoher See. Das Rascheln und Säuseln der Blätter ging in den sanften Lauten der Leiern und der tiefen Melodie einer Carnyx unter. In der Mitte der Lichtung zuckten orangene Flammen in roter Glut und tauchten die Hexe, die als letzte um sie tanzte, in schwarze Schatten. Gwynedds Arme glitten durch die Luft. Ihr Schmuck reflektierte das Licht des Feuers wie kreisende Glühwürmchen. Ihr Bruder erhob sich vom kühlen Waldboden, auf dem er mit demütig gesenkten Kopf gekniet hatte, als ihre Bewegungen langsamer wurden und sie vor ihm erstarrte.

Er legte das Graue Heiligenkraut in ihre Hände. Ein silbriges Glühen brach aus ihren ineinander verwobenen Fingern hervor, das die Lichtung in einen Nebel aus dämmrigen Licht hüllte – kaum stark genug, um die Gesichter der Hexen des Zirkels zu erhellen. Ein Prickeln rann Rabans Arme hinab. Gwynedd warf das glühende Kraut in die Luft, wo es vom Wind erfasst wurde und in abertausende Partikel zerfiel. Aus den Augenwinkeln sah er, wie sich das siebte der kleinen Lagerfeuer, die um die Lichtung einen Kreis bildeten, entfachte. Nachdem auch Gwynedd sich in das Moos kniete, trat aus dem halbmondförmig versammelten Zirkel eine gebückte Hexe in langsamen, gebrechlichen Schritten auf die Flammen inmitten der Lichtung zu. In ihren Armen hielt sie ein Bündel, das sich bewegte. Die winzigen Finger eines Neugeborenen reckten sich in die Nachtluft.

»Duilleag bho lathaichean samhraidh, ghabh mi leam fhèin gun fhios, gus innseadh dhomh nuair a dh'èireas, sèisd na neun is àlainn àrainneachd, an t-àite far an ràinig mi sios«, sang sie mit rauer Stimme. »Die Persische Kaiserkrone und der Zweig einer Eibe sollen euch auf eurem Weg begleiten, im ewigen Kreislauf von Tod und Wiedergeburt.« Das Feuer knisterte, als sie eine Blume mit schwarzen Blüten und einen dicht grünenden Nadelast in die Glut warf.

»Bi ann an t-sìthiche gheal nam màthair«, echoten die Stimmen aller Hexen über die Lichtung.

Auch seine Großmutter hatte vor jedem Festessen die Worte gesprochen. Genieße die Sonnenstrahlen des nahenden Morgens. Ein warmes Gefühl breitete sich in seinem Inneren aus. Die auserwählten Hexen, welche die Tugenden verkörperten, und ihre Luchd flùraichean erhoben sich. Die Leiern gingen zu einer schnelleren Melodie über. Einige der anwesenden Frauen, Männer und Kinder liefen am Feuer vorbei auf das Buffet zu, das im Hintergrund am Waldrand aufgebaut stand. In dem Gewusel konnte er das Lagerfeuer in der Mitte der Lichtung kaum noch erkennen.

Zwischen all den Hexen tauchte Gwynedd auf, die ihm zu wank. Ihr Bruder Grant zog an ihrem Arm, um sie in Richtung des Essens zu bugsieren, wodurch sie über einen kleinen Jungen stolperte, der mit einer Schüssel in den Händen im Slalom um die vielen Beine lief.

Rabans Grinsen erstarb, als Gwynedd sich schließlich aus dem Griff ihres Bruders löste und vor ihm zum Stehen kam. Ihre braunen Augen wirkten im schwachen Lichtschein dunkel wie ihre schwarz geschminkte Stirn, auf der die silberne Mondsichel angebracht war. Einige Strähnen hatten sich aus ihrer Frisur gelöst, die sich über ihre Schultern lockten. Die breite Narbe auf ihrer Nase war kaum zu sehen. Ein Lächeln schlich sich auf ihren Lippen, als er noch immer nichts sagte und seinen Blick stattdessen erneut über ihr Gesicht und den schlichten Umhang gleiten ließ, den sie sich über das dünne Festgewand aus grauer Seide gezogen hatte.

»Fehlen dir die Worte vor der Gerechtigkeit?«, neckte sie.

»Ihr seht wunderschön aus, mo ghràidh

Ihr Lächeln vertiefte sich. »Weißt du, bei jedem anderen würde ich es reichlich albern finden, wenn er mit mir spricht, als wäre ich eine Hofdame aus dem achtzehnten Jahrhundert.« Sie griff nach seiner Hand und zog ihn rückwärts laufend näher an das riesige Herbstfeuer, wo eine Handvoll Kinder zu tanzen begonnen hatten. »Zu dir passt das irgendwie.«

Loyalitäten ✓Where stories live. Discover now