2. Unter der Eibe

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Der Brunnen in der Mitte des Piazza de Magus wurde von dem warmen Licht mehrerer Laternen eingehüllt, die um den Sockel der wasserspeienden Statue angehängt waren. Die Stände und Hütten lagen in der Dunkelheit der Dämmerung, durchbrochen von vielen bunten Lichtergirlanden und schwarzen Gestalten, die geschäftig durch die engen Gassen wuselten. Der Marktplatz befand sich verborgen inmitten eines riesigen Hinterhofes der Menschen. In wenigen Minuten würde die Wasserbahn einfahren und sie über Zürich bis nach Alt-Thierstein bringen.

»Hast du alles, was wir benötigen?«, fragte Mervyn. Einige Strähnen seines hellblonden Haares, das er sonst akkurat frisiert trug, fielen ihm in die Stirn, sodass es aussah, als hätte er einen durchzechten Vormittag hinter sich. Die mitternachtsblaue Fliege an seinem Hemdkragen hing etwas schief.

»Wo hast du dich denn herum getrieben?«, überging Raban seine Frage. Er musterte seinen Cousin erneut von oben bis unten. Seine Hosenbeine zierten einige dunkle Flecken.

Mervyn folgte seinem Blick naserümpfend. Mit seiner Hand machte er eine halbmondförmige Bewegung, doch der Zauber zeigte keine Wirkung. Der Schmutz blieb. »Ich war in der Zwischenzeit in der« – er trat einen Schritt näher und senkte seine Stimme – »Via Severo.« Auf seine Lippen schlich sich ein arrogantes Grinsen, das nur bedeuten konnte, er hatte in den dubiosen Läden bei der Arena di Verona ein interessantes Geschäft gemacht. »Man möchte meinen, dort wüssten sie, wenn jemand von der Obrigkeit vor ihnen steht.«

Ein Schnauben erklang. Hinter ihnen stand ein rothaariger Junge, der einen einfachen, blauen Umhang trug. »Dass du dich selbst als Obrigkeit bezeichnest, Owain...«

»Wie erwartbar, dass du und deine dreckige Familie wie immer beweist, was für eine Schande ihr für die Silurer seid«, giftete Mervyn.

Das Plätschern der Statue setzte aus. Die Wasserbahn musste eingefahren sein. Raban zog an dem beigen Mantel seines Cousins, um ihn auf den Brunnen aufmerksam zu machen, in den zwei Hexen zu ihrer Rechten bereits ihre Münzen einwarfen. Mervyn und er hielten ihre Fahrkarten über die glatte Wasseroberfläche. Bevor sein Cousin sich, wie er, kopfüber in den Brunnen fallen ließ, warf er dem rothaarigen Jungen noch einen finsteren Blick zu. Dann wurde alles nass und kalt.

Als Raban einen Wimpernschlag später aus dem Becken der ersten Klasse im Zuginneren auftauchte, empfing ihn wieder wohlige Sommerwärme. Die Stufen unter seinen Füßen waren aus edlem Marmor, durchzogen von schwarzen Fäden. Gegen seine dunklen Stiefel schwappte Wasser, als auch Mervyn hinter ihm aus dem Becken geschossen kam. Seine Großmutter hatte ihm erzählt, dass erst Ende des neunzehnten Jahrhunderts das Brunnenfahren im gänzlich trockenen Zustand möglich geworden war.

Gegenüber von ihnen stand ein Schaffner in roter Uniform, der ihnen ein höfliches Lächeln schenkte. »Buona sera, signor Owain. In compagnia? Darf ich die Herren zu ihren Plätzen begleiten?«

Gemeinsam stiegen sie aus dem Becken. Das Wasser perlte von ihren Schuhen ab, als hätten sie sich nicht wenige Sekunden zuvor in einen Brunnen gestürzt. Sie reichten Signor Antonelli, wie das dunkle Namensschild an seiner Brust offenbarte, ihre Fahrkarten. Der Mann hatte ergrautes Haar, einen fein gezwirbelten Schnurrbart und musterte sie aus warmen Augen. »Das Übliche?«

Mervyns hochgezogene Augenbraue war Antwort genug. Der Schaffner streckte seinen Arm in Richtung des Tresens aus, auf dem Gläser zu einer Pyramide gestapelt standen – mit Magie befestigt, damit sie bei der Fahrt nicht herunterfielen. Diverse, bunte Flaschen waren farblich sortiert in einem Regal dahinter aufgereiht. Apfelwein und zwei Schoppengläser flogen auf Signor Antonelli zu, der sie geschickt auffing. Er führte sie tiefer in das Wageninnere zu einem Abteil, das im Stil des restlichen Waggons gehalten war. Rote Polstersessel drapiert um einen goldumrahmten Tisch.

Loyalitäten ✓Where stories live. Discover now