19 - PFLASTER FÜR MEINE SEELE

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Ich ziehe einen letzten Zettel. »Hurensohn«, sage ich, ohne die wahren Worte auf dem Zettel überhaupt gelesen zu haben. Das hier wird abgebrochen.

Den Mülleimer stelle ich nach unten auf den Boden außer Sichtweite. Jetzt kommt mein mühevoll vorbereitetes, leeres A3-Papier ins Zentrum der Aufmerksamkeit ... oder eben auch nicht. Einige Blicke sind nach unten gerichtet, weil TikTok spannender ist als ein wichtiges Anliegen vom Klassenlehrer. Dort können sie umblättern, wenn die Emotionen zu real werden. Ich halte das Papier hoch. »Die Beleidigungen, die ihr euch jeden Tag gegenseitig an den Kopf werft, ich möchte, dass ihr sie heute mal nach vorne zu mir wirft. Direkt auf dieses leere Papier.«

Verwirrung zeichnet sich auf den Gesichtern der Schüler ab. Sie zweifeln, ob ich es ernst meine. »Keine falsche Scheu. Das wird keine Konsequenzen für euch haben. Ich verspreche es.« Es bleibt still. Einer ganz vorne meint, dass er darauf keine Lust hat. René macht den Anfang und ruft aus der mittleren Reihe laut das Wort: »Fotze!« Um ihn sind alle schockiert.

»Weiter!«, befehle ich. Ein paar von den cooleren Kids finden das wohl lustig und stimmen lachend mit ein. Es fallen Ausdrücke, die immer lauter werden. Mit jedem Ausruf knülle ich das Papier in meinen Händen zusammen, bis es eine Kugel ist.

Meine Finger verkrampfen sich um den Ball, als jemand am Ende noch »Schwuchtel« hinterher ruft. Erst die Eindringlichkeit, mit der ich auf das Papier drücke, lässt sie verstummen. Bilder von der Nacht, wo Junis in der Wäschekiste lag, zeichnen sich vor meinen Augen ab. Am liebsten würde ich das Klassenzimmer verlassen. Zu Beginn der Stunde habe ich angenommen, die belanglosen Beleidigungen der Schüler halte ich aus. Aber einzelne Worte können einen bereits den Boden unter den Füßen wegziehen, wie ich feststelle.

»Möchte sich jemand bei dem Papier entschuldigen?« Einige fangen zu lachen an. Vielleicht soll ich mir nicht immer alles angucken, was Yuna auf Instagram liket. Grundschüler würden das sicher ernster nehmen.

Jennifer lässt mich zum Glück nicht im Stich. Sie kommt nach vorne und streicht liebevoll über die Papierkugel. »Entschuldigung, Mr. Papier.« Ich entfalte das Papier ein kleines Stückchen und schaue abwartend in die Runde. Jetzt trauen sich auch weitere. Wir wiederholen das so lange, bis das Papier aufgefaltet ist.

»Alles wieder in Ordnung?«, frage ich in die Runde. Leider bringe ich die Frage kaum über meine Lippen. Ich klinge abgehackt. Wie ein Roboter, dem das Öl ausgegangen ist. Die Schüler merken es und schweigen deshalb.

Erst nach einer Weile meldet sich Johannes – eher vorsichtig. »Naja, es steht aufrechter, aber so glatt wie vorher ist es trotzdem nicht.«

»Gemeinheiten...« Scheiße! Ich kann das nicht. »Sie hinterlassen Narben wie auf diesem Papier. Man kann sich entschuldigen, aber die Aussagen sind schon gemacht und sie haben ... Spuren hinterlassen. Manche sind ... schlimmer.« Nein, wir werden das Ganze abbrechen. Ich drehe mich zur Tafel, atme tief durch und umklammere den Stift. Die Träne blinzele ich weg. Den Rest der Worte spreche ich mit dem Rücken zur Klasse. »Aber es gibt Pflaster. Das können Dinge oder Personen sein. Ich möchte, dass ihr euch für die nächste Stunde überlegt, wer für euch ein Pflaster sein kann.«

Während vereinzelte Schüler sich die Hausaufgabe notieren, schalte ich auf YouTube den Song Gut, dass du da bist von SEELEMANN an. In den letzten Wochen habe ich ihn rauf und runter gehört. Insbesondere die folgenden Zeilen hallen stark als Echo wieder:

Hab' noch heut' 'nen kleinen Schaden
Noch immer Angst, ich werd' verlassen
Deswegen muss ich manchmal fragen
Ob du mich auch wirklich magst, denn

Von allem, was passiert ist, bleibt n Echo zurück
Doch es bleibt nicht nur das Schlechte, sondern auch was vom Glück
Deine Liebe hat mich aufgebaut
Und zum Glück hab' ich dir das geglaubt

Es klingelt erst in fünf Minuten, trotzdem öffne ich die Tür, um frische Luft zu schnappen. Schlage den Weg zum Lehrerzimmer ein und laufe dann wieder zurück, weil ich meine Tasche vergessen habe. Die Schüler sind schon wieder putzmunter in Unterhaltungen vertieft und haben den Inhalt der Stunde vermutlich nicht mal verstanden. Demnächst werden sie sich wieder gegenseitig beleidigen.

Eric bewegt sich vorsichtig auf mein Lehrerpult zu. Ein Junge, der im Sportunterricht angeblich mal handgreiflich geworden sein soll, obwohl ich es für ein Gerücht halte. In meinem Unterricht befolgt er vorbildlich alle Regeln. Bis jetzt. Normalerweise dulde ich keine Schüler hier in meiner Nähe, jetzt mache ich eine Ausnahme. Etwas an seinem Blick lässt mich erweichen. »Ich habe nicht verstanden, warum sie das Papier in der Hand hatten, aber Herr Schwab, ich wollte Ihnen gerne sagen, dass es mir leidtut, dass Sie mal jemand so schlimm beleidigt hat. Ich werd's wahrscheinlich nie wieder tun.«

Dann ist er verschwunden. Heute habe ich keine ganze Klasse verändern können, aber eine Person allein ist für so manch ein Schicksal schon ausreichend. Das erste Mal seit langem erfüllt Wärme meinen Körper. Und das in der Schule! Wer hätte es gedacht?

Mein vibrierendes Handy befreit mich aus der Trance. Ein Blick auf den Bildschirm sagt mir, dass Yuna geschrieben hat. Automatisch schwillt der Kloß in meiner Kehle noch weiter ab. Vielleicht ist sie ja das Pflaster für meine Narben.

Kannst du mir helfen? Bin im Lehrmittelraum. Bin zu klein, um an das Spielgeld ranzukommen :(

Bei ihr bin ich mir nie sicher, ob sie belanglos daherredet oder hinter dem Zu-klein-sein eine tiefe Identitätskrise steckt. Leider weiß ich, dass sie in der Vergangenheit von um die zwanzig Schülern wegen ihrer Größe fertiggemacht wurde. Manchmal ist es zum Verrücktwerden. Man fragt sich, warum immer nur die fiesen Mobber gewinnen. Warum sie Narben hinterlassen, die nie verschwinden. Wann ist es Zeit für einen Sieg?

Erics aufmunterndes Lächeln zeichnet sich vor mir ab und schenkt mir die Antwort, die ich gesucht habe.

Ach, dafür wirst du in deinem Leben noch für über tausend Schüler die Größte sein! :)

Dieses Mal kriegt uns keiner klein. Wir werden einen kleinen Bruchteil in der Welt bewirken, denn neben all den Verlusten in meinem Leben, gibt es auch etwas, das bleibt.

𑁍 𑁍 𑁍

Das vollständige Lied gibt's oben. Es passt einfach so gut 😍

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